Die Drachenflotte (German Edition)
Betracht?»
«Selbstverständlich ziehen wir diese Möglichkeiten in Betracht. Aber Ihr Vater war nicht reich genug für eine Entführung, und jeder vernünftig denkende Kidnapper hätte entweder Ihren Vater oder Ihre Schwester als Geisel genommen, um den anderen dann für das Lösegeld sorgen zu lassen. Und müssten wir in dem Fall nicht inzwischen eine Lösegeldforderung bekommen haben? Was den Raubüberfall angeht, so kann ich mir auch das nicht vorstellen. Ihr Vater und Ihre Schwester waren an der ganzen Küste bekannt und beliebt. Jeder wusste, dass sie ihr letztes Stück Brot geteilt hätten. Es wäre fady gewesen, sie zu berauben. Sie wissen, was fady heißt? Tabu.»
«Ich weiß, was fady heißt.»
«Und welcher Räuber, der halbwegs bei Sinnen ist, hätte so ein wertvolles Boot einfach davontreiben lassen? Nein, an einen Raubüberfall zu denken, ist Unsinn. Es war ein Unglücksfall. Ein tragischer Unglücksfall.»
«Sie haben aufgegeben», sagte sie.
«Ich bin realistisch.»
«Sie sind nicht tot.»
Andriama setzte wieder seine betrübte Miene auf. «Ich bete darum, dass Sie recht haben», sagte er. «Aber ich fürchte, alle Anzeichen –»
Rebecca legte die Hand auf ihr Herz. «Sie sind nicht tot», wiederholte sie. «Und ich werde sie finden.»
III
Boris riss den Druckknopf am Sicherungsriemen der Scheide seines neuen Messers auf, während er Knox durch die Gasse folgte, und schloss die Hand fest um das Heft. Bei der Berührung stieg eine lebhafte Erinnerung an sein erstes Mal auf, zwanzig Jahre war das jetzt her. Als junger Landarbeiter hatte er damals Rache für die Vergewaltigung und Ermordung seiner Mutter gesucht, eine der zahllosen Gräueltaten, die den brutalen Bürgerkrieg in Georgien gekennzeichnet hatten, jedoch die einzige, die für ihn zählte. Sie hatten unter einer dünnen Baumreihe einer sich nähernden Patrouille aufgelauert. Er erinnerte sich noch, wie er seinen Mann anvisiert hatte, wie der Kerl in den Schnee gestürzt war, erinnerte sich seines tierischen Brüllens, während er versuchte, sich gegen sein Schicksal zu wehren, und flehentlich einen Arm nach den Kameraden ausstreckte, die schon Hals über Kopf geflohen waren. Noch eine der damals so kostbaren Gewehrkugeln abzufeuern, wäre Verschwendung gewesen, deshalb hatte Boris sein Messer gezogen, während er sich an seinen Mann heranpirschte. Es war so offenkundig, dass der Tod direkt bevorstand, dass er zusammen mit seinen Kameraden dem Sterben nur zugesehen hatte, bis es vorbei war. Danach hatte ihn am meisten seine eigene Distanziertheit erschüttert, das völlige Fehlen eines Gefühls.
Vorn waren einige Zaunpfähle umgestürzt, niedergerissen vom Gewicht einer illegalen Müllkippe, die sich, stinkend und von Fliegen umschwirrt, bis in die Gasse ausgebreitet hatte. Boris hätte sich nichts Besseres wünschen können. Wenn man so ein Ding richtig hinbekommen wollte, musste man genau wissen, wie man vorgehen wollte. Er ging daher die Abfolge Schritt für Schritt im Kopf durch, wie ein Hochspringer, bevor er anlief: linke Hand auf Knox’ Mund, damit er nicht schreien konnte, und die rechte an seinem Hals durchziehen. Dann hoch mit ihm auf die Müllkippe, ein paar Fotos noch mit dem Handy, die Bodenplane über ihn ziehen und Müll darüber verteilen. Wenn er Glück hatte, würde es, selbst wenn Knox’ Verschwinden eine Fahndung auslöste, einen oder mehrere Tage dauern, bis man ihn fand. Zeit genug, um sich Davit zu schnappen und zu verschwinden.
Er ging schneller und drehte das Messer in seiner Hand, um besser durchziehen zu können. Er war nur noch zwei Schritte hinter Knox, als zwei kleine Mädchen, die Fangen spielten, kreischend am hinteren Ende in die Gasse gerannt kamen. Als sie Knox und Boris bemerkten, kreischten sie noch ein bisschen lauter, machten kehrt und rannten davon. Offenbar durch sie aufmerksam geworden, drehte Knox sich um und schreckte instinktiv zurück, als er Boris so dicht hinter sich sah. «Du lieber Gott», sagte er, «ich hatte Sie gar nicht bemerkt.»
Einen Moment lang dachte Boris daran, es trotzdem zu versuchen, aber dann erinnerte er sich, dass dieser Mann im Einzelkampf sogar Michail Nergadse mattgesetzt hatte, den Einzigen, der Boris jemals wirklich das Fürchten gelehrt hatte. Er zögerte nur einen Wimpernschlag lang, aber das reichte schon. Seine Chance war vertan. Er versteckte sein Messer unter seinem Handgelenk, lächelte entschuldigend und ging, wütend über sein Pech, an Knox
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