Die Drachenjägerin 1 - Winter, M: Drachenjägerin 1
ein verlorenes Kind, das niemand aufnehmen wollte. Keiner sprach über Drachen, es sei denn, man erzählte sich die Legende von Brahan und erinnerte sich an jene schrecklichen Tage vor achthundert Jahren, als sie über den Ländern zwischen dem Stillen Meer und der Ebene der wilden Reiter gewütet hatten. Niemand dachte an Drachen, es sei denn, man beging den Laranstag und feierte jenen unvergesslichen Helden, der die Menschen von ihrem Joch befreit hatte. Und, als Allerwichtigstes, keiner sah Drachen, denn das alles war Vergangenheit.
Wenn sie an diese Ungeheuer nur ständig gedacht und darüber geredet hätte, hätte man ihr noch verziehen. Doch dass sie Drachen sehen konnte – das war ungehörig, seltsam und ganz und gar verrückt.
Linn wies in den blendend blauen Himmel. » Man muss nur gut aufpassen, dann erwischt man ihn irgendwann. Ich würde ihn dir so gerne zeigen.«
» Das tust du eines Tages. Bestimmt.« Er grinste sie an. » Hay, hay, hay. Ich wette, so wird es kommen. Wenn nicht, schneide ich mir die Haare ab.«
» Bloß nicht!« Seine glänzende pechschwarze Mähne war sein ganzer Stolz. Aber er glaubte so fest an Linn und das, was sie von sich gab, dass er bereit war, alles einzusetzen. Manchmal geriet sie genau aus diesem Grund ins Zweifeln. Und wenn es bloß Einbildung war? Wenn alle anderen recht hatten? Denn Rinek würde ihr auch glauben, wenn sie behauptete, fliegende Frösche zu sehen.
Linn packte den rauen Stoff des Leinensacks fester und überholte ihren Bruder. Das Klappern des Mühlrades wurde mit einem Schlag lauter, als sie sich unter der Tür hindurchduckte. Der ganze Boden vibrierte, weißer Staub wehte ihr ins Gesicht. Sie blinzelte und kämpfte sich die Holzstufen hinauf.
Am Trichter wartete Lester schon auf sie. » Da seid ihr ja. Rein damit.«
Jedes Mal, wenn man den Sack endlich ans Ziel gebracht hatte und loswurde, war es ein Gefühl, als würde man eine Handbreit über dem Boden schweben. Linn schüttelte die verkrampften Schultern aus und streckte sich.
» Ha, das tut gut.«
» Das ist ja eigentlich keine Arbeit für eine Frau.« Merok, der in der Geschwisterreihe direkt nach ihr kam und sich mit seinen vierzehn Jahren schon wie ein Mann fühlte, baute sich im Eingang auf und schaute ihr missbilligend entgegen. Seit Lester ihm die Aufgabe übertragen hatte, die Preise für das Korn, das die Bauern anlieferten, auszuhandeln – eine Aufgabe, die eigentlich Rinek zugestanden hätte, dem das jedoch einfach nicht lag –, versuchte er, immerzu ernst und würdig dreinzuschauen und möglichst selten zu lachen.
» Auf ihn!« Der Schrei der Geschwister kam wie aus einer einzigen Kehle. Rinek und Linn stürmten gleichzeitig auf Merok los und warfen ihn zu Boden. Er fluchte eine Weile, während seine Geschwister sein Gesicht mit ihren staubigen Händen bearbeiteten. Linn schmierte ihm mit größtem Vergnügen geschrotete Gerste in die Haare.
» So sieht er gut aus. Wetten, Finchen kann ihm nicht widerstehen?«
Finera, die stupsnasige Tochter des Schusters, hatte Merok ein geflochtenes Freundschaftsband geschenkt. Seitdem ließen Rinek und Linn keine Gelegenheit aus, ihn mit seiner kleinen Freundin aufzuziehen.
» Nein, so ganz ohne Bart wirkt er wie ein kleiner Junge. Sollen wir dir einen Bart malen?« Hingebungsvoll tätschelte Rinek die Wangen seines Bruders und hinterließ darauf schmutzig braune Spuren.
» Lasst mich in Ruhe.« Merok stieß die beiden von sich herunter und machte sich mitsamt seiner verletzten Würde davon.
Rinek und Linn lachten, bis sie nicht mehr konnten. Vielleicht ließen sie sich beide zu viel gefallen, aber ganz gewiss nicht von Merok.
» Was ist daran lustig?« Binia war schon wieder von irgendwo aufgetaucht. » Merok ist bald alt genug für eine Braut. Wenn ihn denn eine nimmt. Wahnsinn in der Familie«, streng sah sie von Linn zu Rinek, » ist reichlich abschreckend.«
Sie streckte ihnen die Zunge heraus, doch bevor sie ein ähnliches Schicksal ereilte wie Merok, rannte sie zum Haus hinüber, das sich an die Mühle schmiegte. Lester hatte es gebaut, als Merina mit Binia schwanger gewesen war. Auch hier war das Lärmen des Mühlrads allgegenwärtig. Im Müllerhaus gab es genug Schlafräume für eine sechsköpfige Familie, und eigentlich sollten sich die beiden Schwestern ein Bett in der kleinen Kammer teilen, aber weil sie sich ständig stritten, war Linn vor einigen Monden auf den Dachboden der Mühle umgezogen und benutzte das Mädchenzimmer
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