Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
Leben bedeutete. Nun jedoch ahnte er es, und ihm wurde klar, dass er Laio nicht verraten wollte. Eben daher rührte der Druck im Magen, der Kloß im Hals: Er wollte etwas nicht tun.
An einem Nachmittag schließlich stieß Vrasta auf die Spuren von Laios Freunden und begriff, dass sie nach Seferdi unterwegs waren.
Abends schlief Laio neben ihm und atmete ruhig. Vrasta rüttelte ihn sanft, der Junge schrak auf und rieb sich die Augen. »Feinde?«, fragte er und bemühte sich, wach zu werden.
»Ich habe dich verraten.« Als es heraus war, fühlte sich Vrasta sofort besser. Laio verstand nicht. »Was?«, fragte er, noch schlaftrunken.
»Mein Anführer hat mir befohlen, dich freizulassen. Ich soll mit dir deine Freunde finden und euch dann alle umbringen.«
Plötzlich war Laio hellwach und richtete sich auf. »Und nur deswegen hast du mich befreit?«
»Man hat es mir befohlen«, antwortete Vrasta. »Willst du mich denn umbringen?« »Nein«, antwortete Vrasta sofort.
Laio blickte dem Fammin fest in die Augen. »Hier bin ich, wenn du mich töten willst, so tue es jetzt. Los!«
Vrasta senkte den Blick. »Ich habe dich verraten ...«, wiederholte er.
»Das stimmt nicht. Du hast mich nicht nur befreit, weil man es dir befahl. Und du hast mich auch nicht hierher geführt, um mich und meine Freunde zu verraten. Nein, du hast es getan, weil du es so wolltest.«
Vrasta blickte ihn an. »Ein Fammin kann keinen Befehl verweigern. Die Verirrten, die ich kennengelernt habe, wollten nicht töten, aber sie mussten. Denn dafür hat der Tyrann sie erschaffen.«
»Aber es war deine Entscheidung, mir jetzt die Wahrheit zu sagen, und du selbst hattest auch beschlossen, dich so gut um mich zu kümmern. Das hatte dir niemand befohlen. Siehst du, auch du kannst tun, was du für richtig hältst, auch du hast die Wahl.«
»Ich will nicht gezwungen werden, dich zu töten. Ich will dich nicht verraten ... Du bist mein Freund«, sagte Vrasta traurig.
Da streckte Laio eine Hand zu ihm aus und streichelte seine Wange. Diese Geste löste ein neues Gefühl bei Vrasta aus, er fühlte sich getröstet und gestärkt.
»Ich vertraue dir und weiß, dass du mich nicht umbringen wirst. Da du mir jetzt alles gestanden hast, habe ich nichts mehr zu befürchten. Führe mich nur zu Nihal und Sennar.«
16. Unsagbares Grauen
Vor Nihal öffnete sich eine lange Straße mit großen, rechtwinklig behauenen Pflastersteinen. Sie war so breit, dass zwei Wagen bequem aneinander vorbeikamen, und führte in die Stadt hinein. Die Steinplatten hatten sich verschoben, und in den Zwischenräumen wuchs wildes, dorniges Gestrüpp. Wahrscheinlich die Hauptstraße, in früheren Zeiten wurde sie gewiss vom Laubwerk majestätischer Bäume gesäumt. Von einigen erkannte sie noch die verkohlten Stämme, andere waren nur noch Gerippe aus verdorrtem Geäst, die sich verkrüppelt vor einem bleiernen Himmel abzeichneten. Auf den abgestorbenen Ästen hockten unzählige Krähen, und deren Krächzen war der einzige Laut, der die dämmrige Einsamkeit durchbrach.
Die Straße war übersät mit Geröll, Glasscherben und sogar noch Waffen hier und dort, die vielleicht jenen aus den Händen geglitten waren, die versucht hatten, die Stadt zu retten. Darum herum die Trümmer niedergebrannter, zerstörter Häuser. Nihal bog in eine Seitenstraße ein. Auch hier die gleiche Verwüstung, die gleichen Trümmer. Sie erblickte sogar Stoffreste, die auf wundersame Weise all die Jahre überdauert hatten. Die Halbelfe betrat ein Haus. Einige Möbel waren noch heil, doch das meiste lag zertrümmert und vermodert über den Boden verstreut. In der Mitte eines Raumes fand sie einen gedeckten Tisch, so als warte er nur auf die Rückkehr der Hausbewohner. In den anderen Räumen bot sich ihr ein ähnliches Bild: umgestürztes Mobiliar, über den Boden verteilte Papiere, blutbefleckte Leintücher.
Sie verließ das Haus und durchstreiften die Straßen und Gassen der Stadt. Überall das gleiche Bild: verfallene Häuser, rußgeschwärzte Mauern, Blut auf Pflaster und an Wänden ...
»Das ist doch nicht normal, dass Blut nach fast vierzig Jahren noch so rot aussieht«, bemerkte Sennar. »Irgendjemand muss durch einen Zauber dieses Bild der Zerstörung festgehalten haben.«
Wie betäubt wanderte Nihal zwischen den Ruinen umher, unfähig, irgendetwas zu fühlen. Alles wirkte so fremd. Es gab nichts in dieser Stadt, das zu ihr sprach, die Stille des Todes erstickte jedes Geräusch und hinderte sie daran,
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