Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
ganz zu begreifen, was sie dort vor sich sah.
So gelangten sie zu einem großen Platz. Nihal erinnerte sich vage, dass dort jede Woche ein Markt abgehalten worden war. Früher hatten sich dort die Leute gedrängt, und in der Mitte hatte ein Springbrunnen mit einem schneeweißen runden Becken gesprudelt, aus dem eine schlanke Säule aus schwarzem Marmor aufgeragt hatte. Nun war der Platz übersät mit verbogenen Eisengestellen, die wohl einmal zu den Marktständen gehört hatten. Das Pflaster war vollständig geschwärzt von der Feuersbrunst, nur der Brunnen in der Platzmitte, an den Nihal sich erinnerte, schimmerte unwirklich weiß. In dem Becken stand trübes, sumpfiges Wasser, aus dem, einem Trauergesang ähnlich, das Quaken von Fröschen ertönte.
Sie streiften weiter umher und gelangten zur Rückseite des königlichen Palastes. Er lag in Trümmern, und der Boden war ringsum mit Bruchstücken jenes Kristalls übersät, aus dem er einmal errichtet worden war. Beim Einsturz hatte der Turm das Dach des Gebäudes durchschlagen und auf diese Weise den Thronsaal freigelegt. Unbeschädigt, schneeweiß im Glanz des Kristalls, ragten die Säulen zum Himmel auf, doch das einzige Gewölbe, das sie noch tragen konnten, war eine Kuppel aus Wolken. An einer hinteren Wand erhob sich inmitten von Schutt und Trümmern der Thron, ebenfalls aus Kristall, mit einer Sitzfläche aus verblichenem Samt, der wahrscheinlich einmal scharlachrot gewesen war. Nihal stellte sich vor, wie Nammen auf dem Höhepunkt seiner Macht auf diesem Thron saß und den vor ihm versammelten Regenten seinen Entschluss verkündete, die von seinem Vater in langen Kriegen besiegten Länder nicht zu unterwerfen, sondern in ihnen die alten Rechte wieder einzusetzen. Dieser Thron inmitten der Trümmer gab ein trostloses, lächerliches Bild ab: Das Symbol der Macht thronte im Schutt. Eine ganze Zivilisation war ausgelöscht worden, und Nihal, die so wenig von diesem Volk wusste und in ihren Albträumen nur bruchstückhafte Bilder von Tod und Zerstörung gesehen hatte, war die Letzte, die davon Zeugnis geben konnte.
Sie durchstreiften den Palast und gelangten in einen großen Saal, in dem wahrscheinlich einmal die Festbankette gegeben wurden. Wie durch ein Wunder war eine hintere, mit einem imposanten Flachrelief verzierte Wand unbeschädigt geblieben. Darauf sah Nihal Angehörige ihres Volkes bei ihren alltäglichen Verrichtungen dargestellt. Ein Symbol in einer Ecke erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war das Wappen ihres Volkes. Als sie sich wieder den Szenen des Reliefs zuwandte, stellte sie irgendwann fest, dass alle Krieger des Halbelfenheeres dieses Wappen trugen. Sie betrachtete es lange und prägte es sich ein.
In einem anderen Saal fanden sie die Überreste einer Einrichtung, die offenbar einmal zu einem Observatorium gehört hatte, das vom Interesse der Halbelfen für das Weltall und seine Geheimnisse zeugte. An einer Wand hing eine zerfetzte Sternenkarte, und am Boden lag zerstört ein Teleskop. Offenbar hatten die Eindringlinge blindlings darauf eingeschlagen, denn die Linsen waren zerbrochen und das Gehäuse vollkommen verbeult. Der Fußboden war mit Papieren und Karten übersät, viele davon angesengt. Auf einigen waren noch Sätze in unbekannten Sprachen zu lesen oder Anmerkungen zu den Bahnen von Sternen und Planeten: die Arbeit eines Lebens, wie Asche in alle Winde zerstreut. In einem anderen Saal stießen sie auf die Statue einer Frau, einer Halbelfe, die offenbar in einer Tanzbewegung dargestellt war. Ihr Gesicht drückte tiefe Freude und Heiterkeit aus, doch der Körper lag mit abgebrochenen Armen am Boden. Da konnte Nihal ihre bis dahin unterdrückten Gefühle nicht länger zurückhalten. Vor der Darstellung dieser Frau ging sie in die Knie und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Komm, lass uns lieber gehen«, versuchte Sennar, sie zu beruhigen. »Du hast gesehen, was du sehen wolltest, jetzt sollten wir uns wieder auf den Weg machen. Komm!« Er beugte sich zu ihr hinab und half ihr aufzustehen.
»Ja, du hast Recht, aber es war gut, dass ich gekommen bin«, schluchzte Nihal. »Es war notwendig, damit ich nie vergesse, was geschehen ist, und immer der Toten gedenke.« »Auch wenn du wolltest, die Toten könntest du ohnehin nicht vergessen«, antwortete Sennar. »Und ich auch nicht nach dem, was ich hier gesehen habe«, fügte er mit finsterer Miene hinzu.
Sie traten aus dem Palast und machten sich auf den Weg, um diese traurige Stadt so schnell
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