Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
wie möglich hinter sich zu lassen. Dabei gelangten sie in eine Straße, in der sie zuvor nicht gewesen waren. Plötzlich spürte Nihal, wie Sennar den Arm um sie legte und sie fest an sich drückte, um ihr das Bild zu ersparen, das sich ihnen dort bot. »Was ist denn da?«
»Ist doch egal!«
»Nein, lass mich sehen.«
»Warum denn? Das musst du dir wirklich nicht auch noch antun.« Sennars Stimme zitterte. »Schau bitte nicht hin!«
Doch Nihal machte sich frei und drehte sich um.
Zu beiden Seiten der Straße reihte sich ein Galgen an den anderen, an deren Stricken noch die Gehenkten baumelten. Auf den Gerüsten hockten Hunderte von Krähen wie dämonische Geister als Wächter der Toten. Aufgeknüpft waren Männer, Frauen und Kinder, die Gesichter unkenntlich, die Kleidung zerfetzt, die Augenhöhlen leer und wie vor Schreck geweitet.
»Jemand muss dafür gesorgt haben, dass das Bild dieses Massakers erhalten blieb«, sagte Sennar mit leiser Stimme. »Irgendwer hat eine verbotene Formel verwendet, um die Zeit daran zu hindern, die Spuren dieser Gräuel auszulöschen.«
Voller Entsetzen hatte Nihal zu schreien begonnen, und Sennar nahm sie in den Arm und zwang sie, den Blick abzuwenden. »Wir hätten niemals hierherkommen dürfen. Komm, lass uns endlich gehen«, sagte er, während er sie stützte und ihr Gesicht an seiner Brust barg.
Durch die Gasse der Gehenkten hindurch liefen sie in Richtung Stadttor, rannten davon, bis die Stadt endlich hinter ihnen lag. Erst dann hielten sie an und ließen sich zu Boden sinken, um Atem zu schöpfen.
Doch schon nach kurzer Zeit stand der Magier wieder auf und fasste die immer noch weinende Halbelfe unter. »Komm, nur weg hier«, forderte er sie auf.
Sennar nahm Nihal an der Hand, und so liefen sie weiter. Langsam wurde es dunkel. In diesem Sumpfgebiet einen Platz zum Lagern zu finden, würde nicht leicht werden. Als sich der Untergrund ein wenig fester anfühlte, beschloss Sennar, dass sie dort nächtigen sollten. Mit ihren Umhängen richtete er ihnen ein Lager ein und entfachte ein kleines Feuer.
»Ruh dich heute Nacht mal richtig aus«, sagte er zu Nihal, »ich werde allein Wache halten.«
»Aber du musst doch auch schlafen ...«, entgegnete sie schwach.
»Nein, das geht schon, und mir ist auch nicht danach«, erklärte Sennar kurz angebunden und deckte sie dann mit seinem Umhang zu. Es war Frühling, Mitte April, wenn er richtig gerechnet hatte, aber die Nacht war eiskalt.
Der Magier kauerte sich vor dem Feuer zusammen und blieb allein mit seinen Gedanken, umgeben vom Quaken der Frösche und dem modrigen Gestank, der aus den Sümpfen aufstieg. Er fühlte sich erschöpft und leer. Beim Anblick der Opfer, die noch an den Stricken baumelten, war ihm, als hätten die Ermordeten nach ihm gerufen und ihn gedrängt, ihren Tod zu rächen. Ein noch nie erlebter Zorn hatte ihn erfasst, und zum ersten Mal verstand er, was Nihal dazu getrieben hatte, Kriegerin zu werden. Ja, zum ersten Mal in seinem Leben hatte er selbst das Verlangen zu töten verspürt. Bedrückt und schweigsam setzten sie ihren Weg am nächsten Morgen fort. Zwei Tage lang marschierten sie durch die Sümpfe, bis es irgendwann um sie herum immer dunkler wurde. Es war aber nicht die Dunkelheit der Nacht. Es war Vormittag, als sie hereinbrach, und sie hatten den Eindruck, die Sonne habe plötzlich beschlossen, nun frühzeitig wieder unterzugehen. Die Wolken überzogen sich mit jenem blassen Gelb, das für die Sonnenuntergänge im Land der Tage typisch war. Dabei war es noch nicht einmal Mittag.
»Man merkt, wir kommen jetzt in das Land der Nacht«, sagte Sennar.
Sie wanderten weiter, bis am Nachmittag die im Halbschatten liegenden Sümpfe in ein finsteres Waldgebiet übergingen. Plötzlich vernahm Nihal ein Geräusch. Sie blieb stehen, lauschte und legte die Hand ans Schwert. Sennar rührte sich ebenfalls nicht mehr und spitzte die Ohren. Eine Weile hörten sie nichts mehr, dann wieder ein Rascheln. Diesmal erkannte Nihal, woher es kam, bewegte sich mit gezücktem Schwert in diese Richtung und sprang ins Gebüsch.
Sie landete auf einem Geschöpf, das sie im Eifer des Gefechts nicht erkennen konnte, dessen Borsten sie aber unter den Fingern fühlte. Sie warf es zu Boden, hielt es dort fest und setzte ihm das Schwert an die Kehle. Da vernahm sie ein anderes Geräusch neben sich.
»Hört auf, das ist ein Freund!«, rief eine fast kindliche Stimme, in der etwas Leidend es mitschwang.
Überrascht betrachtete
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