Die Drachenperle (German Edition)
Magierheilerin schlechthin. Und seit sie das Amt der Ersten der Ältesten des Hohen Rates bekleidete, war seine Verehrung nicht mehr zu steigern gewesen. Und doch, seit einigen Wochen hegte er Zweifel an ihrem geistigen Zustand. Dieses Gerede vom Erben ihrer Macht. Dieser imaginäre Urenkel! Was für ein Jammer, dass sie nun doch dem geistigen Verfall preisgegeben war. Jolim seufzte innerlich. Ja, sogar die Magierheiler waren nur Menschen, so wie alle anderen auch. Und heute nun hatte sie ihn ausgeschickt, nach diesem Phantom zu suchen und nicht eher heimzukehren, bis er ihn gefunden habe! Jolim wusste sich keinen Rat. Er konnte doch nicht mit einem x-beliebigen jungen Mann vor ihre Augen treten, nur damit sie in ihrem Wahn zufriedengestellt wurde.
Das war damals ein schlimmer Tag für alle Familien gewesen, deren Töchter nicht von ihrem Ausflug in das Tal zurückkehrten. Man hatte bei Einbruch der Dunkelheit einen Suchtrupp ausgeschickt. Doch sie kamen nach Sonnenaufgang ohne die Mädchen zurück. Wie es schien, waren sie von Reitern entführt worden, aber da es die ganze Nacht geregnet hat te, waren die Spuren verwischt, kaum noch lesbar. Vielleicht waren es die Beutereiter gewesen, vielleicht auch nicht. Eines der Mädchen wurde später gefunden, von wilden Tieren zerrissen. Aber wenn es die Wölfe gewesen waren, wo waren dann die anderen Leichen? Es blieb ein Rätsel.
Das Bergvolk war ein friedliebendes Volk, es hatte keine Armee, nur einige Stadtwachen. Doch das mochte in Zeiten wie diesen ein Fehler sein. Nicht nur die Beutereiter aus dem langen Flusstal waren eine Gefahr für alle, auch die Vogelfreien, die sich vor allem im Wolfswald verschanzt hatte. Seit Kriegsende und der darauf folgenden Hungersnot gab es viel Gelichter in der Welt. Hungrig, verwahrlost, aggressiv.
Wie lange war das eigentlich her, grübelte Jolim. 20 Jahre? Ach nein, doch eher nur 17 oder 18 Jahre. Aurelias spurloses Verschwinden hatte allen das Herz gebrochen, und was ihren Vater anging, so konnte man dies getrost wörtlich nehmen, so dass die Familie zwei Verluste zu beklagen hatte. Lydia, die Mutter Aurelias, war lange in tiefer Trauer versunken. Wer mochte es ihr verdenken. Selbst er, Jolim, der nur ein Diener der Familie war, konnte kaum seine Tage bewältigen. Es war für alle eine böse Zeit gewesen. Allein Mareika blieb stark. Sie ging ihrer Arbeit nach und heilte die Seelen und Körper der Menschen, die zu ihr kamen. Doch Lydia versagte ihr die Zustimmung zu einer Heilbehandlung, sie wollte die Trauer in ihrer ganzen Tiefe und Härte durchleben und keine Unterstützung annehmen. Und so litt sie einige Jahre schwer daran.
In diesen Jahren veränderte sich Lydia, die vorher so heiter gewesen war. In ihrer Schwermut lag aber au ch ein Geschenk an sie selbst: S ie webte fortan die schönsten Teppiche und Stoffe und wurde für ihre Kunst im ganzen Land berühmt, sogar bis über die Landesgrenzen hinaus. Hier lag ihr wahres Talent. Als ein Familienmitglied einer langen Reihe von Geistheilern, war sie, was das Heilen anging, seltsam unbegabt und hatte auch nie echtes Interes se an medizinischen Themen gezeig t. Nur mit Mühe hatte sie die Grundlagen in der Tempelschule erlernen können. Die große Mareika, das musste Jolim zugeben, schämte sich insgeheim für ihre Tochter vor den anderen Mitgli edern der Zunft . Aber das war auch die einzige Charakterschwäche, die Jolim an seiner Herrin finden konnte.
Jolim war mittlerweile im Stadtkern angekommen. Der große Marktplatz wurde für das anstehende Sommerfest geschmückt. Gaukler sammelten sich in der Stadt, auch kamen aus dem Umland Gäste und füllten zahlreich die feineren Wirtshäuser und die billigen Schänken. Bald schon wäre kein Zimmer mehr frei und Nachzügler würden im Heu in den Ställen schlafen müssen. Damit sein Gang von Mareikas Haus hinunter in die Stadt nicht völlig vergebens wäre, beschloss Jolim zum Gewürzhändler zu gehen. Muskatnüsse und Zimt gingen zur Neige, vielleicht sollte er auch etwas Safran und Zingiberwurzel mitbringen. Seine Herrin war wohlhabend, was den Dienst bei ihr ebenfalls angenehm machte. Jolims heimliche Leidenschaft war das Kochen. Und die Köchin des Hauses.
„Au! Pass doch auf , du Lümmel!“
„Verzeiht, Herr, ich wollte Euch gewiss nicht anrempeln und auf den Fuß treten. Es tut mir leid.“
Auf einem Bein stehend und den schmerzenden Fuß massierend, schimpfte Jolim leise vor sich hin. Dieser Hans-Guck-in-die- Luft, musste
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