Die Drachenperle (German Edition)
die sie webte. Je tiefer der Schmerz in ihr bohrte, umso mehr Farbe und Schönheit setzte sie ihm entgegen. Sie griff mit beiden Händen danach und verwob die Wolle mit ihrer Sehnsucht nach Mann und Tochter. Alles, was sie für die geliebten Toten empfand, all ihre Liebe und Dankbarkeit, machte sie mit Muster und Farbe sichtbar. Doch in ihrer Seele blieb es dunkel und grau, es sei denn, sie saß am Webstuhl. So wurde sie über die Jahre hinweg berühmt für ihre außergewöhnliche Webkunst. Nach und nach hörte der Schmerz auf zu wüten und wandelte sich vom Raubtier zu einem stillen Begleiter, ähnlich einem treuen Hund.
Und nun hatte Mareika diese fixe Idee von einem Urenkel entwickelt, dem sie ihre mentale Macht übertragen wollte. Nun, irgendwie konnte sie es verstehen. Ihre Mutter war sehr alt. Und besessen von ihrem Dasein als Magierheilerin und Älteste des Hohen Rates. So stolz und so machtbesessen. Und nun, am Ende ihres Lebens, tat sich ein beängstigendes Loch vor Mareika auf, in das alles zu entschwinden drohte, was für sie von Bedeutung war. Kein Erbe weit und breit. Dass sie selbst für ihre Mutter nicht wirklich von Bedeutung war, hatte sie schon als Kind gespürt. Sie war eine Enttäuschung für Mareika. Kein überragendes Talent als Geistheilerin. Nur die unteren Ebenen. Das, was jeder dahergelaufene Bauer lernen konnt e in der Tempelschule, wenn er die Aufnahmeprüfung bezahlen und bestehen konnte. Das Einzige, was sie jemals zur Zufriedenheit ihrer Mutter zustande gebracht hatte, war die Geburt ihrer hochbegabten Tochter Aurelia, die die unteren Ebenen der Tempelausbildung schon mit 12 Jahren mit Bravour abgeschlossen hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter, die überragende Mareika, ihr dies nie verziehen hatte, dass sie, Lydia, ihr einziges Kind, keine geborene Magierheilerin war. Nur ihr Vater liebte sie, wie sie war. Doch als Reisender war er selten zuhause. Er diente dem Landesfürst als Diplomat, bis er auf einer sei ner Missionen verschollen ging. Alle, die ich liebe, verschwinden einfach so. Gehen weg. Bleiben nicht bei mir. Lydia legte die Hände in den Schoß und ließ den Webstuhl ruhen. Es war zu dunkel geworden. Feierabend.
Da wurde die Tür zum Webstuhlzimmer aufgestoßen. Mareika stützte sich schwer auf ihren Stock. Ihre sonst blutleeren Wangen waren gerötet und die Augen glänzten wie im Fieber.
„Er kommt!“
Sie wartete nicht auf ihre Tochter , sondern strebte zügig auf ihren knorrigen, altersschwachen Beinen dem Hauseingang zu.
Taiki war Jolim, der unterwegs sehr schweigsam und angespannt gewesen war, bis zum Haus der Ältesten gefolgt. Ein schönes Anwesen, auch wenn das Haus sichtlich alt war. Zu seiner Begeisterung entdeckte er an der Sonnenseite einen Hanggarten, mit allerlei Gemüse und Küchenkräutern. Sogar unnütze , aber schöne Blumen waren darunter, was ihm einen Hinweis auf den Reichtum dieses Hauses gab. In Rossheim hatten sie jedes Stückchen nackte Erde für Essbares genutzt.
Als Jolim die Eingangstür öffnete, bekam Taiki leichtes Herzklopfen. Eine uralte Frau kam ihm langsam und würdevoll entgegen.
„Da bist du also.“
Eine Feststellung, keine Frage. Sie führte ihn in ein Zimmer mit erlesenem Mobiliar. Dergleichen hatte Taiki nie vorher gesehen. Da waren Teppiche an den Wänden! Er hatte nicht gewusst, dass man sie auch aufhängt. Der einzige Teppich, den er je zu Gesicht bekommen hatte, war der, der unter den Herrscherstühlen von Hantok und Ladici lag und im Vergleich mit diesen hier ziemlich mitgenommen aussah. Taiki schüttelte sich innerlich bei dieser Erinnerung an die Verurteilung und schob sie weg.
„Setz dich hierher, damit ich dich ansehen kann.“
Er gehorchte und war gespannt, was sie von ihm wollte. Mareika schaute ihn schweigend an, von oben bis unten. Sie nahm sich für diese Prüfung so viel Zeit, dass Taiki ganz unbehaglich zumute wurde. Er wusste nicht, was man von ihm in dieser seltsamen Situation erwartete.
„Erzähl mir von dir, Junge.“
„Was möchtet Ihr hören, Herrin?“
„Alles. Und danach treffe ich meine Entscheidung.“
Taiki rutschte auf der Stuhlkante hin und her und wusste nicht, wie er beginnen sollte und was er überhaupt von all dem halten sollte. Darum war er sehr erleichtert, als Jolim plötzlich auftauchte. Er trug ein Tablett mit heißem Tee und kleinen Speisen und behandelte Taiki wie einen hoch geschätzten Gast.
„Nun“ , begann er, „dieser Mann, Euer Diener Jolim, ist mir in der Stadt
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