Die Drachenperle (German Edition)
Alles war dunkel. Ich dachte damals, dass der Abgrund so tief war, dass ich deswegen den Himmel nicht sehen kann. Dachte, ich sei in eine schräge Vertiefung des Spaltes gerollt. Aber in Wahrheit war ich blind geworden. Mein Vater fand mich. Er holte mich ganz allein da raus. Wie er das geschafft hat, kann ich nicht sagen. Meine beiden Brüder kamen etwas später hinzu. Sie bauten eine Trage und brachten mich nach Hause. Wochenlang lag ich darnieder. Mein Rücken war so verletzt, dass mir das Bein auf Dauer lahm wurde. Ich hatte furchtbare Schmerzen. Doch meine Familie war arm, das ganze Dorf war arm. Der Krieg war erst seit wenigen Jahren vorbei und wir überlebten alle nur mit Mühe. Einen Heiler konnten wir nicht bezahlen, schon gar nicht die aus Neusalzhausen. Tja, und dann begann es irgendwann. Schleichend. Ich merkte es erst gar nicht. Aber bald schon konnte ich es nicht mehr verbergen, weder vor mir selbst, noch vor den Anderen. Ich hörte wie ein Luchs! Meine Haut wurde überempfindlich, ich konnte die raue Kleidung kaum noch ertragen. Und dann fing ich auch noch an, Bilder zu sehen. Das war so schön. Ich hatte unter dem ewigen Schwarz so gelitten. Aber dann kamen die Farben. Die Düfte und Klänge. Sie alle kamen zu mir. Ich brauchte einige Zeit um zu begreifen, dass diese Erscheinungen durch alles Lebendige um mich herum entstanden. Ich konnte meine Familie endlich wieder sehen, aber anders. Sie glaubten mir das nicht, es war ihnen unheimlich. Dieser Prozess der Verstärkung meiner neuen Sinne schritt immer weiter fort. Ich konnte sogar das ganze Dorf um mich herum wahrnehmen. Fühlte die Personen, ihre Absichten, ihre Freuden und Kümmernisse. Alles auf einmal! Es wurde nach einer gewissen Zeit unerträglich für mich. Nur nachts fand ich etwas Ruhe. Aber tagsüber war es schlimm für mich. Meine überfeine Wahrnehmung brachte mich langsam um den Verstand. Ich riss mir die Kleidung vom Leib, schlug wild um mich, verletzte andere dabei, verfiel manchmal in Schreikrämpfe. Es war so laut und voll in mir! Ich konnte mich selber nicht mehr fühlen. Ich hatte große Angst.“
Taiki hörte gebannt zu. Er sah, dass sich in Josayahs Augenwinkeln Tränen sammelten.
„Wenn es dir zu viel wird, Jo, dann hör auf zu erzählen.“
„Bin fast fertig, das geht noch. Wie schon erwähnt, meiner Familie und dem Dorf wurde das unheimlich. Sie konnten mich auch nicht mehr ertragen. Die Dorfältesten zwangen meine Eltern mich auszusetzen. Ich sei vom gelbäugigen Dämon höchstpersönlich besessen, dachten sie. Wenn mein Vater mich nicht wegbringen würde, dann kämen sie, um mich zu erschlagen, weil ich eine Gefahr für alle sei. Sie stellten meine Familie vor die Wahl: entweder weg mit Josayah, oder weg mit der ganzen Familie. Doch wo hätte mein Vater die Mutter und meine Geschwister hinbringen können? Der Winter stand vor der Tür, meine Mutter war hochschwanger. Ich habe nicht nur zwei ältere Brüder, da sind auch noch drei kleine Schwestern. Vielleicht vier, ich weiß ja nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist. Im Grunde blieb meinem armen Vater nichts anderes übrig. Er fesselte mir Arme und Beine und knebelte mich und trug mich den langen Weg hierher in den Tempel. Obwohl ich nicht mehr ganz bei Verstand war, so spürte ich doch, dass er weinte. Ich kann mich schwach erinnern, dass er hoffte, diese Tempelruine sei ein heiliger Ort gewesen und sei es noch. Er löste die Bande, flehte zu unseren Göttern, mir zu helfen, wie auch immer. Dann deckte er mich mit seinem wärmsten Umhang zu und ging fort. Das ist wichtig, Taiki. Verstehst du? Er hat aus Liebe gehandelt. Aus Liebe zur Familie. Aus Liebe zu mir. Als er fort war, beruhigte ich mich etwas. Hier war ich ganz allein. Allein! So eine Wohltat. Das kannst du dir nicht vorstellen. Und rate mal, wer mich hier am nächsten Tag gefunden hat? Genau! Aidan. Er fand mich und er fand auch dich. Und jetzt sind wir beide hier im Tempel. Ich glaube, das haben die Götter so gewollt.“ Josayah wurde mit jedem Satz leiser und dann schlief er ein. „Und morgen erzählst du mir von dir“ murmelte er noch.
Mitten in der Nacht wurde Taiki wach, weil Josayah sich unruhig hin und her warf, er sprach im Schlaf und stöhnte. Nach einer Weile beschloss er, den von Alpträumen Geplagten zu wecken.
„Jo! Josayah, wach auf! Du träumst nur, hab keine Angst.“
„Was? Hast du was gesagt?“
„Du hast einen Alptraum, Mann. Alles in Ordnung?“
„Ja. Ja, ich
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