Die Drachenschwestern
„Ich sehe schon, du bist genau
so unverschämt wie deine Großmutter. Lies jetzt lieber diesen schmalzigen
Liebesbrief von deinem Holden weiter, ich will doch wissen, wie es weitergeht“,
neckte er sie abschließend.
„Nichts da, schon mal was von Privatsphäre gehört? Wahrscheinlich eher
nicht“, beantwortete sie die Frage gleich selber, „sonst würdest du ja nicht
ungebeten in mein Schlafzimmer spazieren.“
„Wie komme ich überhaupt zu der Ehre, dass du mit mir sprichst?“,
wunderte sich Lance, der es sich auf einem Küchenstuhl bequem gemacht hatte.
Fasziniert beobachtete Kaja die schillernden Blautöne, die ineinander flossen.
Sobald sie sich konzentrierte, bildeten sich sofort wieder feste Konturen und
die Drachengestalt wurde klar erkennbar. Das hatte den Effekt, als würde der
Drache den ganzen Raum ausfüllen.
„Mémé meinte, ich würde dich sowieso so schnell nicht wieder los, als
kann ich mich auch gleich mit dir abfinden. Das ist weniger anstrengend, du brauchst
dir also nichts darauf einzubilden.“
„So, so“, knurrte
er, „hat die alte Hexe wieder mal aus dem Nähkästchen geplaudert!“
Kaja entging der liebevolle Ton zwar nicht, mit dem er Mémé als Hexe
bezeichnet hatte, unterbrach ihn dennoch mit scharfe Stimme: „Okay, hier ist
Regel Nr. 1, Lance. Sprich nie, hörst, nie schlecht von Mémé! Ansonsten rede
ich kein Wort mehr mit dir, haben wir uns verstanden?“
Der Drache nickte zustimmend. Er dachte sich zwar seinen Teil
bezüglich der angedrohten Konsequenzen, doch er schätzte Loyalität sehr und
respektierte daher widerspruchslos diese Regel.
„Gut“, sagte Kaja verdutzt. Nanu, das ging ja leicht, vielleicht
sollte sie gleich noch ein paar Regeln aufstellen. Sie entschied, sich das für
später aufzuheben. Sie war sich sicher, dass es dazu bald wieder eine Gelegenheit
geben würde. Abgelenkt durch das Gespräch und das fantastische, sich in jedem
Atemzug verändernde Bild des Drachen war ihr entgangen, dass Lance sich Tims
Zettel geschnappt hatte.
„…sehr viel Spaß mit dir zusammen“, las der Drache laut vor. „Ich
würde unser Treffen gerne bald wiederholen – „
„Gib das sofort her“, schnauzte Kaja wütend und sprang auf ihn zu. Ärgerlicherweise
war der Drache definitiv grösser als sie. Noch dazu schien sein Arm immer
länger zu werden, bis er fast bis an die Decke reichte. Sie versuchte, an
seinem Arm hochzuspringen und den Zettel zu fassen zu kriegen. Zack, lag sie
auf dem Boden. Offenbar besaß so ein Drachenarm keinerlei Substanz.
Während sie sich hochrappelte, las der Drache ungerührt weiter:
„Leider hat mich gestern doch noch ein dringender Anruf erreicht. Ich Dummkopf hatte
einem Kollegen die Festnetznummer von hier gegeben, in der Annahme, es würde nicht
gerade in diesen Tagen ein Notfall eintreten.“
„Bist du noch zu retten?“, zischte Kaja und ihre Augen blitzten. „Das
ist mein Brief, hörst du, meiner!“
Seufzend fuhr der Drache seinen Teleskoparm mit einer fließenden
Bewegung ein und überreichte ihr den Brief. „Ist doch eh nur Gesülze, brauchst du
denn das wirklich?“
„Was ich brauche, will, möchte oder nicht, geht dich nichts an, zum
letzten Mal!“, fauchte sie ihn an.
Lance gab ihr einen Moment Zeit, den Brief fertig zu lesen, der noch
Tims Handynummer für Notfälle in Kajas Leben enthielt. Dann sagte er beiläufig:
„Geht es mich dann auch nichts an, wenn ich dir helfen könnte, zu erreichen,
was du willst?“
Kaja schreckte hoch. Sie war in Gedanken immer noch bei Tim gewesen.
„Was sagst du da? Wie meinst du denn das?“
„Wie soll ich dir das erklären“, setzte er an, um gleich auf seine
imaginäre, wie es Kaja schien, Armbanduhr zu schauen und zu sagen, „was, schon
so spät, tut mir leid, wir müssen unser Gespräch ein andermal fortsetzen. Ich
muss weg, ein dringender Termin!“ Er stand auf und verschwand durch die Türe
nach draußen. „Was zum Henker… “ Sie sprang auf und rannte ihm hinterher. Doch
der Drache war und blieb verschwunden.
Lance saß währenddessen auf dem Dach in der Sonne und freute sich
diebisch, dass sich Kaja jetzt schön über ihn ärgerte. Hehe.
Kapitel 9
„Dieser Drache ist ja wohl das
Letzte!“, schimpfte Kaja los, als Mémé durch die Tür trat.
„Hat er dich schon
wieder geärgert?“
„Der macht den ganzen Tag nichts anderes. Und kaum gibt er den ersten
vernünftigen Satz von sich, haut er auch gleich wieder ab. ‚Termine’...“,
schnaubte sie
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