Die Drachenschwestern
bedacht – Kopfrechnen und von einer
Reise in ein fremdes Land berichten. Schliefen die Zuhörer dabei ein, gab’s
natürlich keine Punkte.“
Kaja schüttelte sich, und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Jungfrauen rauben? Leute erschrecken? Das passte ja wenigstens noch einigermaßen
zum Inhalt ihrer Märchenbücher – aber Kopfrechnen und aus einem Reisetagebuch
lesen? Da sie sich nicht entschließen konnte, ob sie die Geschichte als reine
Phantasterei abtun oder ihr Glauben schenken sollte, beschloss sie, sich
einfach mal auf die Geschichte einzulassen. War ja sowieso ein Witz, sich zu
fragen, ob das alles nur eine Fantasiegeschichte sei, wenn der Erzähler allem
Anschein nach ein waschechter Drache war. „So viel zum Thema geistige
Gesundheit“, brummte sie vor sich hin. Da sie nun aber wirklich bereit war,
Lance zuzuhören, nicht nur mit den Ohren sondern mit einem offenen Geist,
tauchten bei seinen Worten die schillerndsten Bilder auf. Sie war so verblüfft,
dass sie a) den Anschluss der Geschichte verpasste und b) fast im Straßengraben
gelandet wäre, wenn Lance sie nicht im letzten Augenblick aufgefangen hätte.
Sein Arm fühlte sich kühl und seidig an, doch bevor sie herausfinden konnte,
was sie daran so irritierte, ließ er sie wieder los und der Gedanke war weg.
„Achte gefälligst
auf den Weg“, brummte er unwirsch.
Kaja musste sich ein Grinsen verkneifen. Offensichtlich war dem
Drachen nicht wohl in seiner Haut, wenn er sich ausnahmsweise einmal anständig
verhielt.
Und schon hörte sie wieder seine volle Stimme im Kopf und tauchte ein
in ein Meer von Farben, sagenhaften Gestalten und Gerüchen, als er fortfuhr:
„Einer von uns, Jerry hieß er, hielt sich für den Tollsten überhaupt, mit
seinen dunkelblauen Schuppen und den goldenen Zacken am Rückgrat. Er hatte auch
Erfolg bei den Frauen, die stehen offenbar auf so was...“
„Bei den Frauen, meinst du jetzt Frauen so wie ich, oder
Drachenfrauen“, unterbrach ihn Kaja.
„Beides, scheint ein universelles Gesetz zu sein. Ihr Menschenfrauen
steht ja offensichtlich auch auf diese Kombination.“
„Auf blaue Schuppen und goldene Zacken?“, fragte Kaja ungläubig. „Na
ja, ich weiß nicht so recht…“
„Nein, du Dummerchen“, er duckte sich unter Kajas Blick, „bei euch
Menschen wäre es dann wohl eher die Kombination blaue Augen und blonde Haare, heißen
die nicht ‚Strandjungs’?“
„,Beachboy’ ist wohl der Ausdruck, den du suchst“, kicherte sie.
Lance seufzte: „All diese verschiedenen Sprachen, mir wäre das zu
blöd. Und dann denkt man, hier wird z.B. Deutsch gesprochen und plötzlich ist
wieder ein englisches Wort gefragt, das soll mal einer verstehen.“
„Sprichst du denn
alle Sprachen?“
„Viele, aber am besten natürlich die universelle Drachensprache – nur
würdest du die nicht verstehen. Aber dazu ein andermal, wir kommen ja völlig
vom Thema meiner Geschichte ab. Jerry, er war also unverschämt gutaussehend,
sogar für Drachenverhältnisse. Schließlich sind wir ja alle speziell schön…“,
verzückt betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser einer Viehtränke. „Er hatte
nur ein Problem. Um seinen Erfolg quasi offiziell bestätigen zu lassen und
feiern zu können, musste er die Wettkämpfe, die ab einem gewissen Alter
jährlich stattfinden, gewinnen.“
„Wo lag denn da
das Problem?“
„Erstens ist das ja keine ‚Mister Drachen Wahl’, wo nur das Aussehen
bewertet wird. Alle hatten also grundsätzlich eine reelle Chance. Und zweitens,
das war das Hauptproblem: Er hatte Angst vorm Fliegen, Reisen in ferne Länder
waren für ihn schwierig. Und zu guter Letzt: Er war strohdumm. Er konnte
maximal bis drei zählen, ganz zu schweigen von komplizierten Rechenaufgaben.“
„Oh.“
„Ja, oh. Zumindest für ihn. Uns freute das natürlich. Wir dachten,
jetzt könnten wir endlich sein großes Maul stopfen. Doch zu unserer
Verwunderung mussten wir zusehen, wie er den großen Drachenpreis gewann und die
schönste Jungfrau nach Hause in seine Höhle führen durfte. Du verstehst sicher,
dass unser Ärger groß war. Das konnte einfach nicht mit rechten Dingen
zugegangen sein.“
„Was habt ihr dann
gemacht?“
„Ein paar von uns haben sich zusammengetan, um der Sache auf den Grund
zu gehen. Da wir ja nicht wussten, wie er es gemacht hatte, dauerte es eine
Weile. Dann beschlossen wir, die einzige Möglichkeit sei, dass er die
Prüfungsergebnisse, welche in der Burg aufbewahrt wurden, geklaut
Weitere Kostenlose Bücher