Die Drachenschwestern
sie nach ihrem Apfel greifen, den sie am Morgen
auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Prompt griff sie ins Leere. Suchend
blickte sie sich um und entdeckte zu ihrem Entsetzen Lance, der seelenruhig auf
dem Fensterbrett hockte und entspannt seine Krallenbesetzten Beine baumeln ließ.
Eilig schloss sie die Tür, baute sich vor ihm auf und zischte ihn an:
„Was machst du hier? Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, du sollst
auf mich warten. Und gib mir meinen Apfel zurück!“
Sie schnappte den Apfel und freute sich über den verdutzten
Gesichtsausdruck des Drachen. „Das hättest du nicht gedacht, dass ich so
schnell bin, was?“
Seufzend antwortete Lance: „Nein, das hätte ich tatsächlich nicht
gedacht. Aber offensichtlich kommen deine Reflexe endlich wieder in Gang. Um
auf deine Frage zurückzukommen, ich habe ja auf dich gewartet. Genau hier.“
„Genau das ist ja auch das Problem. Nicht hier, sondern zu Hause
hättest du warten sollen! Was wenn dich jemand sieht?“
„Mich sieht aber niemand, außer dir und Josephine, weil sie deine Großmutter
und somit mit dir verwandt ist. Hast du irgendwelche Verwandten, die auch hier
arbeiten? Nein?“ Als sie überrumpelt den Kopf schüttelte, nickte er zufrieden
und sagte: „Dachte ich’s mir doch!“
„Was mache ich denn jetzt mit dir?“, fragte Kaja, nicht wirklich
beruhigt von seinen Ausführungen. Sie blickte sich hilfesuchend im Raum um.
Lance machte einen Schritt auf sie zu und drückte sie sanft, aber
entschlossen auf ihren Stuhl zurück und meinte leichthin: „Du machst dich jetzt
an deine Arbeit und ich schau mich hier im Haus ein wenig um.“
„Du kannst doch
nicht einfach“, setzte Kaja an.
„Doch, doch und wer weiß, vielleicht entdecke ich ja etwas, das dir
weiterhilft, schließlich habe ich ja Übung im Rumschleichen.“
Er zwinkerte ihr zu und verschwand durch die Wand. Na toll, dachte
Kaja kopfschüttelnd. Das konnte ja heiter werden. Als hätte sie nicht schon
genug um die Ohren.
Als sie nach Hause kam, war sie hundemüde. Schnurstracks ging sie zum
Herd und brühte sich eine Tasse Tee auf. Während das Wasser kochte, fütterte
sie Zorro. Den Drachen am Küchentisch bedachte sie mit einem kurzen Nicken –
sie war zu fertig um schon wieder einen Streit vom Zaun zu brechen.
„Das sind die
Emotionen, weißt du?“
„Wie?“
Aufgeschreckt aus ihren Gedanken blickte Kaja ihn an und vergass ganz,
dass sie ihn eigentlich ignorieren wollte.
„Dass du so erschöpft bist, daran sind die heftigen Emotionen schuld,
die dich heute und in den letzten Tagen so durchgeschüttelt haben. Das raubt dir
deine Energie!“
„Musst du nicht noch irgendwelche Jungfrauen rauben? Ich bin nämlich
gerade nicht in Stimmung für ein laienpsychologisches Gespräch mit einem Drachen.“
Ungerührt fuhr er fort: „Du hast die ganzen letzen Jahre Schutzmauern
um dich gebaut, um nicht zu viel von deinen Gefühlen zu spüren. Und da du das,
wie ich vermute, schon seit deiner Kindheit praktiziert hast, ist dir das
erstaunlich gut gelungen. Diese Mauer ist auch der Grund, weshalb du nicht
mitkriegst, wenn ich mich bei dir telepathisch anmelde oder wieso du immer noch
störrisch das Telefon benutzt um zu sehen, wie es Mémé geht. Du bist an und für
sich ein sehr sensibler Mensch Kaja.“
„Ich bin tough,
sonst gar nichts“, murmelte Kaja aufgewühlt.
Schnell trank sie einen Schluck von ihrem Tee, der inzwischen fertig
war und verbrühte sich prompt den Mund. „Aua!“, entfuhr es ihr. „Und weshalb
funktioniert diese Taktik plötzlich nicht mehr“, wollte sie etwas unwirsch von
Lance wissen.
„Ich vermute, dass es mit dem Schock zusammen hängt, den du letzte
Woche gekriegt hast. So ein Vertrauensmissbrauch ist doch ganz schön heftig.
Und mit der ganzen Geschichte steht ja auch noch deine Existenz auf dem Spiel.
So was geht einem schon an die Nieren. Da muss dein Selbstschutz einen Riss
bekommen haben.“
„Na toll, auch das
noch. Ich war ganz zufrieden so, wie es war!“
„Sei froh, ewig hält so eine Verdrängungstaktik niemand durch. Du
hättest auch schwer krank werden können oder einen Unfall erleiden.“
Wortlos starrte Kaja ihn einen Moment an, bis sie sagte: „Ich muss
nachdenken“, und in ihrem Zimmer verschwand.
Das würde zumindest erklären, wieso ich plötzlich wieder Ahnungen habe,
so aus heiterem Himmel, dachte sie, als sie ausgestreckt auf ihrem Bett lag.
Sie hatte heute Nachmittag noch ein wenig nachgeforscht, aber sie
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