Die drei Frauen von Westport
auch keinerlei Plan dafür gab. Das reichte zwar nicht aus, musste aber ausreichen – einen Freund wie Frederick zu haben, einen Freund, den sie treffen konnte, wenn es ihm passte, wenn er Zeit hatte, wenn er gerade in der Stadt war.
Annie war das Alleinsein gewöhnt. Es gab Menschen, die sich nicht existent fühlten, wenn sie alleine waren, Menschen, die ständig sprechen und anderen zuhören mussten. Annie hingegen fühlte sich quicklebendig, wenn sie alleine war, wenn sie schwieg, wenn sie von Stille umgeben war. Manchmal, wenn sie auf die Bücher in den R egalen der Bibliothek blickte, fühlte sie sich verwandt mit ihnen: Sie waren so voller Inhalt, so still, so reich an Möglichkeiten.
Ihre Schwester war genau das Gegenteil. Sie genoss Gespräche – telefonisch oder persönlich, ihre eigenen oder die am Nebentisch; je mehr Menschen in ihrer Nähe waren, desto glücklicher war Miranda. Sie gab zwar keine Einladungen wie Cousin Lou, hatte aber ihre Autoren und die Lektoren immer zum Essen ausgeführt, zu allen Zeiten desTages, einer komplizierten inneren Ordnung entsprechend: ein erfolgreicher Autor wurde ebenso zum Abendessen eingeladen wie einer, dem es schlecht ging. Miranda inszenierte keine Gastlichkeit wie Lou, sondern zelebrierte diese Mahlzeiten, weil sie fasziniert war. Sie liebte Probleme. Und sie liebte es, aus Problemen Geschichten zu machen und aus Geschichten Gold.
»Ich bin Alchemistin«, sagte sie gerne. »Und ein Albtraum.«
Annie wusste, dass sie weder Alchemistin noch Albtraum war. Vielleicht blieb Frederick deshalb spurlos verschwunden. Dennoch war sich Annie sicher, dass er sie gernhatte – richtig gern – und dass auch sie ihn gernhatte, doch sie untersagte es sich, ihre Gedanken in diese Richtung wandern zu lassen. Sie mochte Frederick. Auf eine Art, wie sie seit sehr langer Zeit niemanden mehr gemocht hatte. Auf eine Art, die ihr ein Gefühl der Leere gab, wenn er nicht da war. Auf eine Art, über die sie lieber nicht weiter nachdenken wollte.
Sie ging wieder insWohnzimmer, wo Miranda gedankenverloren in einer Ausgabe von People blätterte, einer Zeitschrift, die sie neben anderen Klatschblättern als ihre »Akten« bezeichnete. Diese stillen herbstlichenTage in der Provinz mussten schwer erträglich sein für Miranda, dachte Annie bei sich. Sie selbst war es gewohnt, von derWelt vergessen zu werden. Miranda nicht – und inzwischen riefen keineVerleger, keine Lektoren und auch keine Journalisten mehr an. Ein paar der »Schrecklichen Schriftsteller« gab es noch, und ausgerechnet die würden vermutlich immer anrufen. Sie glichen Nebelhörnern, die traurige Töne von einsamen Felsklippen tröteten. KeinWunder, dass Miranda so hingerissen von Kit und seinem kleinen Sohn war. Die beiden waren jung und frisch und unberührt von den gefälschten Katastrophen, auf die Miranda ihr Leben verschwendet hatte.
Kit brachte eine Flasche Maker’s Mark mit, und da er als jahrelang unbeschäftigter Mime über reichlich Erfahrung als Bartender verfügte, mixte er Manhattans für alle. Miranda nuckelte an ihrer Maraschino-Kirsche. Kit hatte wahrhaftig ein ganzes Glas davon mitgebracht. Das intensive R ot und der süße künstliche Geschmack erinnerten sie einen Moment lang an Josie, an besondere Abende, an lange Gläser mit Shirley-Temple-Cocktails.
Henry spielte auf dem Fußboden mit einer Plastikkuh und einem R oboter. Die Kuh und der R oboter tanzten oder rangelten, das war schwer zu sagen.
Jetzt sprach Kit. Aber kaum zu glauben – anstatt ihr seine Geschichte zu erzählen, erkundigte er sich nach ihrer. Er wollte wissen, woran sie als Kind vor dem Einschlafen gedacht hatte. Hatte sieTapeten in ihrem Zimmer gehabt?Welche Lehrer hatte sie gemocht und warum?Welches waren die ersten Schuhe, an die sie sich erinnerte? Manchmal kam es Miranda vor, als durchstöbere Kit ihr Leben wie einen Dachboden voll muffiger alter Schätze, aber sein Interesse war aufrichtig, lebhaft und unerschöpflich. Und Miranda, die so daran gewöhnt war, geduldig zu lauschen und sich auf die schmutzigen Details im Leben anderer Menschen zu stürzen, fand es berauschend, zur Abwechslung ihrer eigenen Stimme Gehör zu schenken, wenn sie die kleinen Geschichten ihres Lebens erzählte.
Annie hörte zu, wie ihre Schwester von der gemeinsamen Kindheit erzählte. Dann und wann ergänzte Annie ein Detail, oder Betty korrigierte eine Erinnerung. Annie musste sich eingestehen, dass sie die Gesellschaft von Kit und Henry
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