Die drei Frauen von Westport
verschwunden.
Jetzt dachte Miranda an diesen Kuss und lächelte in sich hinein. Sie blickte zur Küche hinüber, wo sie immer mal wieder einen Arm, einen Ellbogen, eine Bewegung von Annie wahrnahm, die dort zugange war. Annie machte sich zu oft Sorgen. Sorgen kosteten Kraft und waren ungesund.Von den Auswirkungen auf die Haut ganz zu schweigen. Miranda hatte ihrer Schwester Gesichtscreme von La Mer mitgebracht, dieWunder wirken konnte, aber Annie hatte sich lediglich über den Preis aufgeregt. Sie brauchte unbedingt neue Horizonte. Das Leben bestand schließlich nicht nur aus materiellen Dingen. Miranda dachte an den kleinen Henry. Das war wichtig im Leben: die kleinen Henrys. Annie hatte natürlich ihre Söhne, aber die waren jetzt schon erwachsen. Sie brauchte jemanden, der den Platz ihrer Söhne einnahm – zumindest im täglichen Leben, wenn schon nicht in ihrem Herzen.
»Ich frage mich, wie es wohl Frederick geht«, rief Miranda zu Annie hinüber. » R uf ihn doch mal an, Annie, und lad ihn zu uns ein.«
Annie zog die Besteckschublade auf. Eine unerfreuliche Nebenerscheinung von Mirandas Begeisterung für Kit Maybank und seinen kleinen Begleiter war ein plötzlich erwachtes und häufig zur Sprache gebrachtes Interesse an Frederick Barrow. Annie griff in die Schublade. »Scheiße«, rief sie dann, weil sie sich an einem Steakmesser geschnitten hatte, das aus unerfindlichen Gründen zwischen den Gabeln lag.
»Sei doch nicht so pedantisch, Schätzchen«, äußerte ihre Mutter, die zwar nicht wusste, worüber Annie sich beklagte, aber annahm, dass es sich um Kritik an der Haushaltsführung handelte. Als hätte Betty nicht seit über fünfzig Jahren in ihrer Küche gewaltet.
»Ich habe mich geschnitten«, verkündete Annie und verschwand im Badezimmer, um sich ein Pflaster zu holen.
»Mach keine Blutflecken auf die Handtücher. Obwohl dieses OxiClean ja alles schaffen soll. Und nimm Neosporin. Damit heilt alles dreimal so schnell.«
Betty hatte es sich angewöhnt, tagsüber fernzusehen, und fand die Sendungen ausgesprochen informativ und beruhigend. Sie hätte nie gedacht, dass es so viele Probleme auf derWelt gab und so viele Produkte, um diese Probleme zu beheben.
Nachdem Annie im Badezimmer ihre Schnittwunde verarztet hatte, starrte sie in den Spiegel und fragte sich – nicht zum ersten Mal –, wie sie eigentlich aussah. Und wie andere Menschen sie wahrnahmen. Wie sie selbst sich sah, war unerheblich, denn ihreWahrnehmung wechselte mit ihrer Stimmung. Ich sehe nicht schlecht aus, beschloss sie dann, wie so häufig.Was auch immer das zu bedeuten hatte.
Hatte Frederick das gesehen? Eine Frau in mittleren Jahren, die nicht schlecht aussah und so sorgsam mit sich umging, wie sie es auch mit einer seltenen Erstausgabe tun würde? Sie zupfte sich regelmäßig die Augenbrauen und entfernte mitWachs die Haare auf ihrer Oberlippe. Sie benutzte abends Nachtcreme und morgensTagescreme und sogar im Winter Sonnenschutz. Ihr Make-up wirkte natürlich, aber sie ging niemals ungeschminkt aus dem Badezimmer. Sie schwamm fast jeden Morgen. Ihr Haar sah so natürlich brünett aus wie das jeder anderen relativ bürgerlichen Frau ihres Alters, die es einmal im Monat färben ließ. Sie war also nicht außergewöhnlich, jedoch auch kein Mauerblümchen. Sie war, gestand sich Annie mit einer Mischung aus Stolz und Bedauern ein, solide.
Über ein Monat war vergangen seit ihrem letzten Kontakt mit Frederick. Seit dem Abend seiner Lesung hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Als er damals im Parkhaus auf sein Auto wartete, hatte er eine SMS geschickt, in der er sich für die Lesung bedankte, sie drängte, ihn doch auf Cape Cod zu besuchen, und ihr schrieb, dass er sie vermissen werde. Danach – Stillschweigen. Annie war zutiefst enttäuscht darüber, aber nicht sonderlich überrascht. Frederick Barrow war eine wichtige Person. Sie hingegen nicht. Es gab Gründe für seine Wichtigkeit und für ihre Unwichtigkeit; es gab eine Ordnung im Universum, die dafür sorgte, dass wichtige Leute in ihrer wichtigen Umgebung lebten und die unwichtigen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer Bruchbude, die man ihnen gnädig überlassen hatte. Dennoch war ein wichtiger Mann wie Frederick gelegentlich in New York, wo er sich dann mit einer unwichtigen, aber einigermaßen intelligenten und angenehmen Person wie Annie traf. Das war schon vorgekommen, und es würde vielleicht wieder vorkommen; Annie war sich dessen sogar sicher, wenn es
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