Die drei Frauen von Westport
angenehm fand. Henry hockte auf dem Boden und sprach mit seinen Spielsachen, und es schien ihn nicht zu stören, wenn sie ihm über die seidig weichen Haare strich. Kit hatte seine Jacke auf einen Stuhl fallen lassen und seine Schuhe abgestreift, und obwohl diese kleine Nachlässigkeit geringfügig war imVergleich mit den Bergen von Schuhen, Socken, Sweatshirts und elektronischem Schnickschnack, den ihre Söhne in derWohnung zu verteilen pflegten, empfand Annie bei diesem Anblick einen Anflug von mütterlicher Genervtheit, gepaart mit Zärtlichkeit.
Als dasTelefon klingelte, glaubte Annie einen Moment lang, sie sei bei sich zuhause und ihre Jungs wollten sie sprechen. Doch natürlich war das Klingeln nicht für sie bestimmt, sondern für Miranda.
»Ja«, sagte Miranda in demTonfall, der für die »Schrecklichen Schriftsteller« reserviert war, und verzog das Gesicht, als sie sich den anderen zuwandte. »Ach, wie absolut schrecklich! Sie Ärmster! Na, dafür haben Sie ja mich. Dazu bin ich schließlich da.«
»Großer Gott«, kommentierte Annie, nachdem Miranda aufgelegt hatte. »Diese Gestalten.Was macht er denn, schreibt er eine Autobiografie über jemanden, der eine Autobiografie gefälscht hat?«
Miranda zuckte die Achseln. »Einer der wenigen, die mir geblieben sind. Ihr habt Kinder, ich habe gescheiterte Existenzen. Jedem das seine.«
»Aber schau doch nur, wie gut du mit Kindern umgehen kannst«, sagte Kit. »Deine ›Schrecklichen Schriftsteller‹ müssen eine gute Übung für dich gewesen sein.«
Miranda strahlte.
Sie strahlt, dachte Annie überrascht. Nicht minder überraschte sie dieTatsache, dass Kit den Spitznamen für Mirandas Autoren kannte. Das kam ihr so intim vor; dabei kannten sich die beiden erst seit Kurzem – seit etwa einem Monat. Allerdings steckten sie ständig zusammen. Annie beobachtete, wie Miranda Kit anlächelte. Es war nicht ihr übliches, betont verführerisches Lächeln, sondern ein offenes, natürliches und glückliches Lächeln. Und Kit, sichtlich betört, blinzelte wie ein verdutztes Häschen, das von grellem Licht geblendet wird.
Das wird nicht lange gut gehen, dachte Annie.
Das wird nicht lange gut gehen : So etwas sagen Eltern zu ihren Kindern, wenn sie zu übermütig werden. Annie machte sich bewusst, dass Kit und Miranda aber nicht ihre Kinder waren. Nicht einmal ihre wirklichen Kinder waren noch Kinder. Sie waren erwachsen und würden vielleicht bald selbst Kinder haben. Dieser kleine Junge auf dem Boden, der so viele Erinnerungen wachgerufen hatte, hätte eher ihr Enkel als ihr Sohn sein können. Annie fühlte sich mit einem Mal sehr alt. Sie kuschelte sich auf der Couch an ihre Mutter, legte den Kopf auf ihre Schulter und murmelte: »Mama.«
Wir sind alt, dachte sie. Miranda ist alt. Miranda darf keine verzweifelte alte Henne werden, die von jungen Kerlen abserviert wird.
Aber was ging es sie schließlich an, wie Miranda ihr Leben gestaltete? Und hatte sie ein R echt darauf zu beurteilen, wasVerzweiflung war? Es mochte schmerzhaft enden, aber musste es deshalb falsch sein? Man konnte niemanden beschützen, nicht einmal Miranda.Vor allem nicht, wenn jemand gar nicht beschützt werden wollte. Und schon zweimal nicht vor einem attraktiven jungen Liebhaber.Wenn er überhaupt ihr Liebhaber war. Jedenfalls konnte ein attraktiver junger Liebhaber Miranda sicher bestens von den »Schrecklichen Schriftstellern« ablenken. Die waren nämlich keineswegs die bedauernswerten Opfer, als die sie sich gerne gerierten. Sie waren Möchtegernopfer. Für jemanden, der das Unvollkommene so zu schätzen wusste wie Miranda, musste diese Scharlatanerie, diese Täuschung durch Kostüm und Schminke unerträglich sein.Wenn sie schon keine echten Opfer haben konnte, dann hatte sie zumindest einen gewöhnlichen Mann wie Kit Maybank verdient, einen Mann, der ein normales Leben führte – falls man ein Dasein als unbeschäftigter Schauspieler als normal empfand – und der sie von all den unechten Gestalten ablenkte, die über ihr unechtes Leben schrieben.
Dennoch würde es nicht lange gut gehen.
Frederick war ein echter Mann mit einem echten Leben, vermutete Annie. Er arbeitete und vergötterte seine Kinder und Enkel.Wenn er morgens aufwachte, atmete er die Luft ein, die vom Meer herüberwehte. Mehr wusste sie nicht über ihn. Außer dass er an einem Abend mit in ihreWohnung gekommen war. Er hatte sie an den Armen gepackt und an dieWand gedrückt. Er hatte sie geküsst und sie an sich
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