Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Kindermädchen allerdings nannte ihn einfach »Neffe«, sogar wenn sie ihn direkt ansprach.
In den ersten paar Monaten gab ich mir noch Mühe und versuchte, mich hin und wieder mit ihm zu treffen. Er war klein und dürr und wirkte immer ein bisschen unbeholfen. Sein Haar war hellbraun gefärbt und seine Klamotten irgendwie mangamäßig. Er schien ein ziemlich schlaues Kerlchen zu sein, gleichzeitig aber hatte er eine überaus verwirrende japanische Körpersprache an sich und wirkte dadurch ein kleines bisschen tuntig. Er passte nicht zu meinen damaligen, ach so perfekten Freundinnen, aber ich eigentlich auch nicht, und so begriff ich schnell, dass es einfacher war, mich allein mit ihm zu treffen. Anfangs sah ich in ihm kaum mehr als eine nicht allzu unliebsame Pflicht und stellte daher, nachdem er sich an das New Yorker Leben gewöhnt hatte, umso überraschter fest, dass er ziemlich aufgeschlossen war und sich schnell einen Bekanntenkreis aufbaute – überwiegend ältere Künstlertypen, die ihn respektvoll behandelten, und irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn genauso bewunderte wie alle anderen. Er hatte einen trockenen tiefschwarzen Humor und war für meine Sechzehnjährigen-Begriffe ziemlich cool. Und so war ich ein kleines bisschen traurig, als wir uns aus irgendeinem unerfindlichen Grund aus den Augen verloren.
Acht Jahre später begegnete ich ihm in der New York Public Library. Dort arbeitete er schon, seitdem er nach New York gezogen war. Ich schämte mich ein bisschen, weil ich das nicht gewusst hatte, aber ich freute mich aufrichtig, ihn wiedergefunden zu haben.
Von diesem Tag an trafen wir uns sporadisch auf einen Kaffee oder gingen nach der Arbeit in eine Bar. Der Umgang mit mir schien ihm leichter zu fallen als damals (und ich glaube, ich war tatsächlich ein bisschen erwachsener geworden). Er war nicht mehr ganz so dürr und wirkte selbstsicherer, trotzdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sich sein Gesamtzustand eher verschlechtert hatte, denn auf irgendeine Art wirkte er schwächer als früher. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto klarer wurde mir, dass Jay manisch-depressiv war und extreme Schwankungen durchlebte, vom schwindelerregenden Hoch bis zum vernichtenden Tief und wieder zurück, und das innerhalb weniger Tage. Schon bald drehten sich unsere Gespräche fast nur noch um seine eingebildeten Leiden oder seinen peinlich übersteigerten Optimismus. Und aus diesem Grund, sosehr ich ihn auch mochte und bewunderte, entwickelte ich mit der Zeit einen handfesten Abscheu gegen seine Schwäche.
Die letzten Monate seines Lebens begannen damit, dass er eines Tages verschwand. Zuerst empfand ich es als Erlösung von dem Frust, ihm nicht helfen zu können. Ich hoffte darauf, dass er bei unserem nächsten Aufeinandertreffen ein bisschen stabiler und seine Gesellschaft leichter zu ertragen sein würde. Doch nachdem ich sechs Wochen nichts von ihm gehört hatte, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich rief ihn mehrmals an, doch ich erreichte ihn nicht. Also erzählte ich widerstrebend meinem Kindermädchen von seinem Verschwinden und Komori schickte mich umgehend mit dem Auftrag, ihr Bericht zu erstatten, zu seiner Wohnung.
Jay öffnete mir, als hätte er mich erwartet, drehte sich jedoch gleich wieder um und schlurfte zurück in die Küche, sodass ich schließlich selbst die Tür hinter mir schloss und ihm folgte. Er war unrasiert, trug einen taubenblauen Pyjama und roch nach Alkohol. Ich war noch nie zuvor in seiner Wohnung gewesen. Sie war riesig und fast leer und die Miete definitiv nicht von seinem Bibliotheksgehalt bezahlbar. Die Einrichtung wirkte eher karg als minimalistisch, so als wäre er nie richtig eingezogen. Das Wohnzimmer entbehrte jeder Dekoration und das Mobiliar beschränkte sich auf eine Reihe von Pappkartons an der Wand und Hunderte oder vielleicht sogar Tausende von Büchern, die zu so hohen Türmen aufeinandergestapelt waren, dass sie gerade eben noch die Balance zu halten schienen. Auf dem Boden lag, wie hingeschleudert, eine Steppdecke und daneben ein aufgeschlagenes Buch, mit dem Rücken nach oben. Wie es aussah, hatte er gelesen.
Ich setzte mich auf einen hölzernen Klappstuhl an einem provisorischen Tisch in der Küche und zündete mir eine Zigarette an, während er auf dem Herd einen Topf mit altem Kaffee erhitzte. Auf der Suche nach Tassen öffnete er einen Schrank, aber es gab keine sauberen mehr, also krempelte er sich die Ärmel hoch, um in der halb
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