Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Sollen wir Dr. Bastide zu ihm schicken?«
»Ich weiß nicht, Komori. Ich glaube nicht, dass das die Art von Hilfe ist, die er braucht.«
»Wieso? Welche Art von Hilfe braucht er dann?«
»Er ist depressiv«, erklärte ich und Komoris Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. Ich hatte noch nie in ihrem Gesicht lesen können.
»Nun ja, wir alle fühlen uns manchmal niedergeschlagen, dann muss man einfach weitermachen. Die Welt geht nicht gleich unter, nur weil man gerade einmal nicht glücklich ist. Ich habe einen Krieg durchlebt, musste meine Heimat, mein Land verlassen, ich habe meine Eltern verloren, meine Schwester, meine Nichte und viele Freunde, ich wurde von anderen zurückgewiesen. Wenn ich die Menschen aufzählen sollte, die ich auf dieser Welt noch habe, dann wärst nur noch du übrig, Butterfly. Ich hätte tausend Gründe, depressiv zu sein. Meine Welt ist so oft untergegangen, aber man muss sich zusammenreißen. Und mein Neffe weiß das.«
»Es geht ihm nicht einfach nur nicht gut. Ich glaube nicht mal, dass seine Depressionen einen bestimmten Auslöser hatten. Es ist eine Krankheit.«
»Soll das heißen, sein Geist ist krank?«, fragte Komori. »Dann wäre er vielleicht in einem Krankenhaus besser aufgehoben.«
»Er hat gesagt, dass seine Mutter in so einem Krankenhaus gestorben ist.«
»Das stimmt, möge ihre Seele in Frieden ruhen. Aber diese Einrichtungen sind doch heute ganz anders als damals.«
»Was heißt denn damals? Wann ist sie gestorben?«
»In den Achtzigerjahren.«
»Mein Gott, das ist ja noch gar nicht so lange her.«
»Sie hatte große Probleme, Butterfly.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie war auch krank. Wir haben versucht, ihr zu helfen. Wir haben versucht, die Familienehre aufrechtzuerhalten, so wie sie es sich gewünscht hätte. Irgendwann werde ich dir davon erzählen, Butterfly, und dann wirst du alles begreifen.«
»Also ist sie keines natürlichen Todes gestorben.«
»Ein ehrenhafter Tod ist im Sinne der Natur.«
»Komori, ich glaube, er wünscht sich vielleicht zu sterben.«
»Dann sollte er es auch dürfen.«
»Jetzt bin ich ganz durcheinander. Der Tod ist doch kein Heilmittel für eine Krankheit. Wir sollten versuchen, einen Weg zu finden, wie er wieder gesund werden kann.«
»Die Natur hat uns die Macht gegeben, über unser Leben zu bestimmen, und wir haben uns nun mal für einen würdevollen Tod entschieden, Butterfly. Für diejenigen, die wir zurücklassen, mag das schwer sein, deswegen müssen wir sie unterstützen, wenn sie uns dazu verhelfen, in redlicher Erinnerung gehalten zu werden.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Ich denke doch, Butterfly. Ich glaube, du hast die Gabe, solche Dinge zu verstehen. Der Tod ist nur ein Stadium im Zyklus der Natur. Und die Entscheidung für den Tod, selbst unter kompliziertesten Umständen, gehört zur Kunst des Lebens.«
»Also sollen wir ihn einfach leiden und sterben lassen oder möchtest du vielleicht lieber, dass er Seppuku begeht?«
»Ich möchte, dass du ihm etwas gibst.« Sie erhob sich langsam auf die Füße und schritt zu einer Schublade, aus der sie einen länglichen Gegenstand holte, etwa dreißig Zentimeter lang und in Seide gewickelt. Ich wusste, was es war, und für eine Sekunde wurde mir schwindelig und ein Kribbeln durchzuckte mich. Sie überreichte mir das Päckchen mit beiden Händen und neigte dabei den Kopf.
In den nächsten zwei Wochen besuchte ich Jay jeden Tag und brachte ihm Whisky mit (etwas anderes nahm er nicht an). Er trug immer einen Schlafanzug und roch nach Alkohol und manchmal auch ein bisschen nach Pisse. Sein zunächst spärlicher Bart begann mit der Zeit zu wuchern und sein Gesicht wirkte eingefallen. Doch inmitten all der Tränen, die er vergoss, fingen wir an, hin und wieder miteinander zu lachen; es war ein raues, überspanntes Gelächter. Ich fragte mich, ob das ein Zeichen dafür war, dass er sich langsam wieder erholte. Aber er wollte sich nicht erholen.
»Ich brauche das Gefühl, Butterfly. Ich muss noch tiefer vorstoßen.« Er schwelgte in seinem Seelenschmerz, nährte seine Verzweiflung, und seine einzig wahre Sorge war die, irgendwann nichts mehr fühlen zu können und niemals den Höhepunkt zu erleben, nach dem er so mühsam strebte. Ich war dabei sein Maß für die Wirklichkeit, ein Fixpunkt, anhand dessen er seinen Niedergang abschätzte. Er war schwach und zitterte permanent. Seine Hände und Füße waren mit blauen Flecken und kleinen Schnitten
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