Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
gefüllten Spüle zwei Stück zu spülen. Seine Unterarme waren mit dünnen, geraden, offensichtlich selbst zugefügten Schnitten überzogen.
»Was ist denn in letzter Zeit mit dir los, Jay?«
»Ach, du weißt schon, das Übliche.«
»Wenn jemand für sechs Wochen spurlos verschwindet, ist das wohl kaum üblich«, entgegnete ich.
»Nein, ich habe nur gerade ein paar Probleme, das ist alles.«
»Was für Probleme?«, hakte ich nach.
»Ach, keine Ahnung.«
Ich schwieg einen Moment und dachte nach. »Familie?«, fragte ich dann. »Arbeit? Liebe? Gesundheit?«
»Es spielt keine Rolle, Butterfly; ich finde immer irgendwas. Ich bin depressiv. Das ist eine Krankheit, die einen nach und nach auffrisst, und es geht immer weiter abwärts mit mir.«
»Bist du schon lange so?«
»Schon seit Jahren. Es gibt Höhen und Tiefen, aber die Höhen geben immer nur einen Vorgeschmack darauf, wie weit es danach zum Ausgleich bergab geht, darum sind sie eigentlich genauso schlimm. Ich habe diese ständigen Stimmungsschwankungen so satt; es gibt nie auch mal nur eine kleine Pause.«
»Aber ein solches Hoch habe ich bei dir schon ziemlich lange nicht mehr erlebt.«
»Stimmt. Im Moment sind selbst die Höhen ziemlich tief. Es ist ein Teufelskreis. Eine ewige Abwärtsspirale.«
»Und was willst du jetzt machen? Hast du einen Plan, wie du da wieder rauskommst?«
»Wie sollte der denn wohl aussehen?«
»Keine Ahnung; du könntest zum Beispiel zurück nach L. A. gehen oder vielleicht wärst du in Tokio glücklicher.«
»Hier ist es völlig in Ordnung, danke.«
»Oder du könntest dir einen Therapeuten suchen.«
»Das ist echt nicht so mein Ding, Butterfly.«
»Könntest du nicht ein bisschen Sport machen oder dir ein Hobby suchen?«
»Butterfly, halt einfach den Mund.«
»’tschuldige.« Ich starrte zu Boden.
»Aber mir ist etwas Merkwürdiges aufgefallen.«
»Was denn?«
»Es gefällt mir.«
»Was?«
»Depressiv zu sein. Der Selbsthass und die Unsicherheit. Die Verzweiflung. Die Todessehnsucht. Ich bin regelrecht süchtig danach, das ist alles so intensiv und erfüllend.«
»Vielleicht wirst du ja doch langsam verrückt.«
»Was ist denn bitte schon normal, Butterfly?«
»Hat das nicht etwas damit zu tun, dass man ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten an den Tag legt und Rücksicht auf seine Mitmenschen nimmt?«
»Woher willst du wissen, dass nicht der Rest der Welt verrückt ist?«
»Aber vielleicht könnte dir ja wirklich jemand helfen. Zum Beispiel mit Medikamenten, die dich stabilisieren.«
»Meine Mutter ist in einer Anstalt gestorben. Wusstest du das?«
»Nein, wusste ich nicht.«
»Meine Großmutter und deine geliebte Komori, diese hinterlistigen Hexen, haben sie da reingesteckt, damit sie dort stirbt. Sie haben sie umgebracht.«
Dass Komori hinterlistig sein konnte, war für mich nichts Neues. Aber schlecht über sie zu reden, war absolut tabu. Und das wusste auch Jay. Es war, als hätte er mich in meinem Glauben beleidigt. Niemand hatte in meiner Gegenwart je so über Komori gesprochen und ich musste die Wut hinunterschlucken, die plötzlich in mir aufstieg.
»Ich bin sicher, sie wollten nur ihr Bestes«, erwiderte ich trocken. Vielleicht hatte Jay ja tatsächlich die Verrücktheit seiner Mutter geerbt.
»Ich lasse mich jedenfalls nirgendwo einliefern, das wollte ich damit sagen. Mir geht es wunderbar mit meiner guten alten Depression. Und ich hoffe, dass sie mich einfach nach und nach zerstört und mein Körper sich zersetzt, von innen nach außen, sodass ich in himmlischem Schmerz dahinscheiden kann, klar und süß, und dann wird es dunkel.«
Meine Gedanken waren in hellem Aufruhr. Die Vorstellung, dass sich jemand dermaßen nach der Dunkelheit sehnen konnte, faszinierte mich; die Tatsache, dass er sie lieber aufrechterhalten wollte als den Kreis ein für alle Mal zu durchbrechen. Diese vollkommene Zurückweisung jeder Chance auf ein glückliches Leben widersprach allem, was uns je als erstrebenswert vermittelt wurde, trotzdem kam sie mir wie eine fundamentale Erkenntnis vor. So als irrte sich der Rest der Welt tatsächlich und Jay war womöglich auf dem Weg zu einer Dunkelheit in ihrer höchsten, reinsten Form. Mir stockte der Atem.
Dieses Gefühl kannte ich. Jay erzählte mir Dinge, die ich schon längst wusste. Ich entschuldigte mich und versprach ihm, am nächsten Tag wiederzukommmen.
»Was gibt es Neues von meinem Neffen?«
»Es geht ihm nicht gut, Komori.«
»Was hat er denn?
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