Die drei Lichter der kleinen Veronika
gleiche Kauf geregelt war, setzte sich Aron Mendel in einen hohen Lehnstuhl und erholte sich, während Johannes den Kaffee bereitete, in einer stillen, langen Pause. Zum Kaffee aß er Hörnchen mit Butter, auch das war Überlieferung. Hörnchen mochte er sehr, obwohl er sie zu dem Luxus rechnete, der nicht ohne Sünde ist, wenigstens an einem gewöhnlichen Werktag. Aron Mendel hatte seine eigenen Gedanken über alles, die er sich mühevoll auf seinen Wanderungen gestaltet hatte. Er hatte ja Zeit genug dazu gehabt im Staub der Landstraße. Solche Gedanken sind Kinder der Stille und Einsamkeit, und man sollte im Lärm der Schlagworte mehr auf sie achten. Sie sind nicht immer richtig; aber immer sind sie menschengeborene, lebendige Wesen, und auf ihren Spuren spinnt das Dasein seine unsichtbaren Fäden. Denn leben und das Leben begreifen, heißt seine Straße wandern auf müden Füßen.
»Hörnchen sind sündhaft«, sagte Aron Mendel und bestrich ein neues Hörnchen sorgsam mit Butter, »es ist heute kein Feiertag. Ich habe auch schon zwei Tassen Kaffee getrunken, es ist gegen das Gleichmaß der Dinge.«
Johannes Wanderer goß Aron Mendel die dritte Tasse Kaffee ein.
»Das Gleichmaß der Dinge haben Sie genug in sich aufgenommen, Aron Mendel, man muß auch nicht allzu regelmäßig sein. Die bestimmten Feiertage haben ihr Recht, aber die Feierstunden, die man sich selber bereiten kann, haben es auch. Und ich rechne es zu den Feierstunden, wenn wir beisammensitzen, und die alten Jahre stehen vor mir auf, als ich noch in die Schule von Halmar ging. Vielleicht ist es auch noch viel länger her, daß wir uns kennen. Oft empfindet man sich so zeitlos. Ich denke dabei an ein Dasein, das vor diesem Leben war. Glauben Sie, daß es nichts weiter um uns ist, als daß Sie Jahr um Jahr auf der Landstraße wanderten und daß ich meine Schule abmachte, ein wenig reiste und nun in dem einsamen Gartenhaus sitze, um Studien zu treiben, meinen Schwestern zu helfen und die kleine Veronika und den blöden Peter zu betreuen? Ich finde, es reicht nicht aus, um das Menschliche in uns, um uns selbst zu erklären.«
»Ich habe auch darüber nachgedacht«, meinte Aron Mendel, »aber das ist für mich wie ein fernes Land, das ich nicht finden kann. Man träumt sich manches Mal hinein, aber man ist nicht darin.«
»Man ist freilich nicht mehr darin, aber es ist in einem, und dazwischen wacht es auf und man erinnert sich. Wenn ich Sie so vor mir sehe, Aron Mendel, so kann ich mir gut vorstellen, daß Sie vor tausend Jahren einmal ein König der Wüste waren, mit Juwelen geschmückt und mit dem goldenen Stirnreif im Haar. Kann es nicht sein, daß wir auch damals so beisammen gesessen haben wie heute? Vielleicht sprachen wir von einer Zukunft, die nun Gegenwart ist. In den alten Kulturen wußte man mehr vom Wandel der Seelen und vom Werden und Vergehen als jetzt, wo die Menschen laut geworden sind, aber nicht mehr tief.«
Aron Mendel wiegte den alten Kopf hin und her.
»Wer soll das wissen, Johannes? Es kann sein, und es war wohl ein leichteres Leben als heute. Wir sind Verstoßene, man muß es tragen.«
»Das ist in gewisser Hinsicht wahr«, sagte Johannes Wanderer, »aber wir wollen das Vergangene nicht zurückwünschen. Es ist ein Berg, auf den wir alle hinaufgelangen müssen, und es ist besser, Aron Mendel zu sein auf der Hälfte des Weges, als im Königsreif unten zu stehen. Man schleppt zwar schwerer, aber auf dem Gipfel des Berges hören alle Lasten auf!«
»Und doch sind wir verstoßen, seit der Tempel zerstört ist«, sagte Aron Mendel.
»Der Tempel ist überall zerstört worden, nicht nur bei einem Volke, Aron Mendel. Und verstoßen sind wir alle, aber wir sind es, um im Dunkel das Licht zu finden und um den Tempel wieder aufzurichten. Würde man nicht so denken, wie sollte man es aushalten? Man kann nur das bejahen oder sich betäuben. Die meisten Menschen betäuben sich, darum ist es eine irre Zeit geworden.«
»Es trägt sich schwer«, sagte Aron Mendel und seufzte, »es ist auch nicht nur so, daß ich den Kasten geschleppt habe durch alle die Jahre, es war viel mehr, was man trug, aber man ist ergeben geworden.«
»Es ist viel, wenn man ergeben wird, Aron Mendel, und darum sind Sie heute größer als damals, wo Sie vielleicht ein König waren. Mir hat es immer sehr leid getan, daß Sie diesen Kasten schleppten, aber Sie haben recht, es ist nicht nur dieses – es ist Symbol für alle Bürden, die wir tragen. Ich habe mich oft
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