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Die drei Lichter der kleinen Veronika

Die drei Lichter der kleinen Veronika

Titel: Die drei Lichter der kleinen Veronika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Kyber
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darauf fällt! Man sah sich schon mit blutenden und zerschnittenen Fingern. Diese bedruckten Tücher, diese Seidenbänder werden überhaupt nicht mehr geliefert. Die Welt muß darauf verzichten, sie stellen sich zu teuer. Es ist also das letzte Mal, daß ein menschliches Auge diese Muster sieht. Nie wieder wird es diese Schokolade geben, es ist eigentlich Wahnsinn, sie zu verkaufen – und alles das zu Preisen, die beinahe als eine milde Unterstützung des Käufers zu betrachten sind! Und nun wird die letzte Schublade langsam aufgezogen, wie ein Vorhang vor einem Theaterbild: Schmuck und Kostbarkeiten, Korallennadeln und Ringe, in denen geschliffene Steine aus Glas in der Sonne blitzen! Eine unerhörte Pracht – und nicht nur der Billigkeit wegen aus Glas, o nein, vor allem darum, weil Glas bekanntlich alle Edelsteine übertrifft an Licht und Farben. So etwas kann man mit sogenannten gewöhnlichen Edelsteinen überhaupt nicht erzielen. Es würde sich lächerlich dagegen ausnehmen! Nicht wahr? Ein jeder muß das einsehen, der nur ein wenig davon versteht.
    Ich weiß es noch wie heute, wie groß die Kinderseligkeit solch eines Einkaufs war. Noch besser und noch tiefer aber weiß ich es, wie sie zu Ende ging. Ich sehe es noch vor mir, wie der alte Jude Schublade um Schublade schloß, wie er den groben Leinensack über den Kasten zog und ihn mit einer einzigen ruckhaften Bewegung auf die Schultern lud. Da packte mich mit einem Male der Gedanke: dieser Kasten ist viel zu schwer für den alten Mann, und er schleppt ihn Tag für Tag und Stunde um Stunde, in Regen, Schnee und Sonnenbrand über die endlose Landstraße. Was hat er von seinen Herrlichkeiten? Für ihn selbst sind sie nicht da, er muß sie schleppen und muß sie fortgeben. Er muß noch froh sein, wenn er sie fortgeben kann, damit er sein Brot zu essen hat, das er vielleicht am Grabenrand verzehrt oder in einem schmutzigen Heidekrug, wo er in einer Ecke sitzt und die Leute über ihn lachen und ihn verspotten.
    Langsam, mit dem gleichmäßigen Schritt ergebener Übung verschwand der alte Jude auf der Landstraße, und ich sah ihm nach, wie er den Kasten weiterschleppte, wie die Traggurte in die Schultern einschneien und die Bürde ihm den Rücken krumm bog. Ein grenzenloses Mitleid mit dem alten Manne überkam mich, und der teuer erkaufte Plunder brannte mir in der Hand wie ein unrechtes Gut. In meiner Seele, die bisher alles kindlich unbefangen nahm, formte sich die Frage: willst du so wandern, willst du, daß dein Vater, dein Bruder an Stelle dieses alten Juden wäre und diese viel zu schwere Last auf seinen müden Füßen durch die Straßen der Fremde schleppen müßte? Zum ersten Male begriff ich etwas vom Fluch der Menschheit und von der Qual, mit der sie ihre Bürde fremd und einsam durch verdunkeltes Dasein trägt.
    Und eine ferne Ahnung redete in mir von vielen schweren Bürden, die man sehen, und von den Bürden, die man selbst einmal durchs Leben tragen würde, gegen die man sich auflehnt und die einen wund drücken, bis man sie immer stiller und ergebener schleppt, mit dem Ziel vor Augen, sie am Ende der Wanderung an einem letzten Feierabend in die Ecke zu stellen, um sie nicht mehr auf die Schultern zu nehmen. Das menschliche Dasein hatte seine Tore für einen Augenblick aufgetan, und ich hatte sein Sinnbild erkannt in dem armen alten Juden auf der staubigen Landstraße, mit seiner viel zu schweren Bürde.
    Das war damals, und es ist viele Jahre her. Heute ist auch über die einsame nordische Landschaft eine andere Zeit gekommen, und die alten Juden wandern nicht mehr von Hof zu Hof. Das Leben hat sich geändert, und es hat neue Formen der Freude und noch weit mehr neue Formen der Mühseligkeit gefunden. Als aber die kleine Veronika im Haus der Schatten wohnte, war das nordische Land noch stiller, und hin und wieder sah man noch den wandernden Juden mit seinem schweren Bündel auf dem Rücken, wie ein Überbleibsel aus vergangenen Tagen, das stehengeblieben ist.
    Solch ein Überbleibsel war Aron Mendel.
    Er war dürr und sehr groß. Man bemerkte es nur nicht, wie groß er eigentlich war, und daß er die meisten Menschen um Haupteslänge überragte, wenn er sich aufrichtete. Man sah das nicht, weil er gebeugt war unter seiner Last und weil er sie so viele Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, daß seine Schultern krumm geworden waren. Haare und Bart waren weiß und hingen wirr und ungeordnet herab, zerzaust vom Winde, und sein Gesicht machte den

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