Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)
die geeigneten Bußen und Exorzismen auferlegen.
Hierauf haben Wir den edlen Jungherrn, nachdem von ihm der Afrikaner als Diener der Angeklagten erkannt worden ist, dem Herrn von Bridore, seinem Vater, wieder überantwortet.
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Zum achten haben die Diener Unsres gnädigen Herrn, des Erzbischofs, in großer Ehrfurcht vor Uns geführt die hochgeborene und hochwürdige Dame Jacqueline von Champchevrier, Äbtissin des Klosters Notre-Dame zu Esgrinolles, Filiale der Kongregation vom Mont-Carmel, deren Händen die genannte Ägyptianerin, die in der Taufe den Namen Blancheflor Bruyn erhalten, als Novize übergeben worden durch den Herrn Seneschallen von Tours, den Vater des gegenwärtigen Grafen von Schloß Roche-Corbon, zur Zeit Vogt des genannten Klosters.
Der hochwürdigen Dame haben Wir in Bündigkeit erklärt, daß es sich in dem gegenwärtigen Fall um die heilige christliche Kirche, um den Ruhm Gottes, um das ewige Heil unzähliger Menschen unserer Diözese, die von einem Teufel in Weibsgestalt beunruhigt wird, und um das Leben eines Geschöpfs handle, dessen Unschuld möglicherweise bewiesen werden kann. Hierauf, nachdem Wir den Fall also vorgetragen, haben Wir die hochgeborne und hochwürdige Frau Äbtissin ersucht, Uns mitzuteilen, was zu ihrer Kenntnis gelangt sei über das wunderbare und unerklärliche Verschwinden ihrer Tochter in Gott Blancheflor Bruyn, als Braut Unsers Heilands Schwester Ciaire genannt.
Hierauf hat die sehr edle, hochgeborne und hochwürdige Dame ausgesagt wie folgt:
»Schwester Ciaire, von unbekannter Herkunft und also wahrscheinlich von ketzerischen Eltern und Feinden unsrer christlichen Religion abstammend, ist schlecht und recht in dem Kloster eingekleidet worden, dessen Regierung und Verwaltung mir, obwohl ich dessen unwürdig bin, nach den Vorschriften des kanonischen Rechts übertragen worden ist. Sie hat ihr Noviziat tapfer bestanden und dann nach der heiligen Regel des Ordens ihre Gelübde abgelegt. Bald darauf aber ist sie in große Traurigkeit verfallen und ist hingewelkt vor unsern Augen. Von mir, der Äbtissin, über ihre Krankheit und Melancholie befragt, hat sie unter Tränen geantwortet, daß sie selber nicht wisse, warum, daß sie aber manchmal meine, an ihren Tränen ersticken zu müssen, wenn sie ihre schönen Haare nicht mehr auf dem Kopfe fühle; daß sie außerdem eine unbezwingliche Sehnsucht nach der freien Luft und den unwiderstehlichen Drang in sich spüre, zu springen, auf Bäume zu klettern, sich zu schaukeln und im Tanz ihre Glieder zu üben, wie sie es von ihrem Leben unter freiem Himmel gewohnt war; daß sie ganze Nächte mit Weinen verbringe und von den Wäldern träume, in denen sie einst im Laub übernachtet, daß sie in solchen Erinnerungen die eingeschlossene klösterliche Luft entsetzlich finde, daß sie oft meine, nicht mehr atmen zu können und ersticken zu müssen; daß sie oft in der Kirche und im Gebet auf die tollsten Gedanken verfalle und manchmal ganz und gar den Kopf verliere. Ich habe dann die Arme auf die heiligen Lehren der Kirche hingewiesen, habe sie an die unaussprechliche Seligkeit erinnert, deren die gottgeweihten, reinen Jungfrauen im Paradies teilhaftig werden, und wie vergänglich das irdische Leben, wie unerschöpflich und ohne Grenzen aber die Güte Gottes sei, der uns in seiner unendlichen Liebe für die flüchtigen Entbehrungen im Diesseits ewige Freuden bereitet hat im Jenseits. Ungeachtet dieser mütterlichen Zusprüche verharrte die Unglückliche in ihrer boshaften Verstocktheit. Immer sah sie während der Messe und dem Gebet durch die Fenster nach dem Laub der Bäume und den Blumen der Wiese. Aus reiner Bosheit wurde sie immer blasser wie Linnen auf der Bleiche, um zuletzt die Erlaubnis zu erhalten, in ihrem Bette bleiben zu dürfen. Dann wieder lief sie durch die Säle und Kreuzgänge des Klosters wie eine Ziege, die sich von ihrem Pflock losgerissen hat. Zuletzt ist sie ganz abgemagert, hat ihre Schönheit, die von allen bestaunt wurde, verloren und ist umhergeschlichen wie der Schatten an der Wand. In diesem Zustand haben Wir, als die Äbtissin und Mutter, weil Wir fürchteten, daß sie Uns unter den Händen wegsterbe, verordnet, daß sie in den Saal der Kranken gebracht werde. Und dann, eines Morgens im Winter, war sie spurlos verschwunden, ohne daß eine Tür erbrochen, ein Riegel abgerissen, ein Fenster geöffnet, worden oder sonstige Anzeichen sich gezeigt, die auf ihre Flucht hätten hindeuten können. Es war
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