Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
über den Fundamenten.
Okas beobachtete, wie die Jahrhunderte vorbeizogen, und wartete mit grenzenloser Geduld, schätzte den Verlauf der Zeit an der Bewegung der Sterne. Schließlich sah er die vertrauten Gebäude der jüngeren Vergangenheit und bewegte seinen Geist nahe ans Dorf, Er konzentrierte sich auf Kiall und wurde zu einem kleinen Haus am Westrand gezogen. Dort beobachtete er die Geburt eines jungen, sah das stolze Lächeln auf dem Gesicht der erschöpften Mutter, sah das Glück in den Augen von Kialls Vater, als er zärtlich seinen Sohn hochnahm.
Okas entspannte sich und ließ die Vision Hießen. Er sah, wie Kialls Mutter an einem Fieber starb, als der Junge gerade laufen lernte; er beobachtete, wie der Vater bei einem Sturz verletzt wurde und sein Leben durch Wundbrand verlor. Er schaute zu, wie der Junge aufwuchs, von Fremden großgezogen. Dann sah er das dunkelhaarige Mädchen Ravenna.
Schließlich kam er zu dem Überfall. Die Nadir donnerten mit funkelnden Schwertern und schimmernden Lanzen durch das Dorf.
Okas wandte den Blick von dem Gemetzel ab und wartete, bis die Räuber ihre Gefangenen in die Berge brachten, wo Wagen mit Ketten und Handfesseln bereitstanden.
Er folgte ihnen hundertfünfzig Kilometer zu einer von Palisaden umgebenen Stadt, doch dort verblaßte das Bild.
Okas öffnete die Augen und streckte sich, wobei er ein Stöhnen unterdrückte, als die Gelenke in seiner Hüfte knirschten und knackten. Der Wind war kalt auf seiner Haut, und er war todmüde. Doch er mußte noch einen weiteren Flug unternehmen. Der Ruf war noch stark, und er verband sich mit ihm. Sein Geist erhob sich von seinem Körper und glitt rasch über die Steppe hinweg. Die Berge waren aus dieser Höhe schön, eingehüllt in Schnee und gekrönt von Wolken. Sein Geist sank auf den höchsten Gipfel nieder, drang durch ihn hindurch tief in die Finsternis. Schließlich kam er in eine Höhle. Wo Fackeln an den Wänden flackerten und ein alter Mann vor einem kleinen Feuer saß. Okas betrachtete ihn genau. Er trug eine Kette aus Löwenzähnen um seinen mageren Hals, und der dünne weiße Bart hatte kaum mehr Substanz als Rauch. Als der Mann die dunklen Augen aufschlug und auf Okas richtete, lag Schmerz darin – und ein so tiefer Kummer, daß es Okas fast zu Tränen rührte.
»Willkommen, Bruder«, sagte Asta Khan. Der Nadirschamane zuckte zusammen und schrie auf. »Wie kann ich dir helfen?« fragte Okas. »Was tun sie dir an?«
»Sie töten meine Kinder. Du kannst nichts tun. Bald werden sie ihre Macht gegen mich richten, und dann werde ich deine Hilfe benötigen. Die Dämonen werden fliegen, und meine Kraft wird nicht ausreichen, um sie zurück in die Hölle zu schicken. Aber mit dir habe ich eine Chance.«
»Dann werde ich hier sein, Bruder … und ich bringe Hilfe mit.« Asta Khan nickte. »Die
Geister-die-noch-komrnen-werden.«
»Ja.«
»Werden sie kommen, wenn du sie bittest?«
»Ich glaube ja.«
»Sie werden unbeschreibliche Alpträume erleben. Die Dämonen Werden ihre Ängste spüren – und sie Wirklichkeit werden lassen.«
»Sie werden kommen.«
»Warum tust du das für mich?« fragte Asta. »Du weißt, was ich wünsche. Du weißt alles.«
»Nicht alles«, widersprach Okas. »Kein Mensch weiß alles.« Asta schrie auf und rollte sich auf dem Boden hin und her. Okas saß still und wartete, bis der alte Schamane sich aufrichtete und sich die Tränen aus den Augen wischte. »Jetzt töten sie die Kleinen, ich kann ihre Qual nicht ausblenden.«
»Das würdest du auch nicht wollen«, sagte Okas. »Komm, nimm meine Hand.«
Der Geist von Asta Khan erhob sich aus dem zerbrechlichen Körper. In dieser Gestalt wirkte er jünger, stärker. Okas nahm die ausgestreckte Hand und ließ seine eigene Kraft in den Körper des Schamanen fließen.
»Warum?« fragte Asta noch einmal. »Warum tust du das für mich?«
»Vielleicht ist es gar nicht für dich.«
»Für wen dann? Tenaka? Er war nicht dein Herr.«
»Es reicht,
daß
ich es tue. Ich muß in mein Fleisch zurückkehren. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein.«
Kialls Zorn war nicht von Dauer. Als die Suchenden am Waldrand auf Okas warteten, setzte der junge Mann sich neben Chareos und machte seinem Ärger Luft.
Chareos schnitt ihm das Wort ab. »Folge mir«, sagte er scharf. Der Schwertmeister stand auf und ging ein paar Schritte in den Wald, so daß sie außer Hörweite der anderen waren. Dort drehte er sich zu Kiall um. Seine dunklen Augen funkelten
Weitere Kostenlose Bücher