Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
zornig, und seine Miene war starr.
»Verschwende deinen selbstgerechten Zorn nicht an mich, Junge. Ich werde es nicht zulassen. Als die Räuber kamen, hast du – wie alle anderen im Dorf – nichts getan. Natürlich
glauben
sie, daß sie die Gefangenen nicht zurückwollen. Und warum? Weil sie in einen Spiegel blicken und dort die eigene Feigheit sehen würden. Sie müßten jeden Tag mit diesem Spiegel leben. Jedesmal, wenn sie einer ehemaligen Gefangenen begegneten, würden sie ihre eigene Unzulänglichkeit sehen. Und jetzt hör auf, deswegen zu jammern.«
»Warum bist du so wütend?« fragte Kiall. »Du hättest es mir doch einfach erklären können.«
»Erklären …?« Chareos warf den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Sekundenlang sagte er nichts, und Kiall sah, daß er sich mühte, sein Temperament unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich setzte er sich und bedeutete Kiall, es ihm gleichzutun. Der junge Mann gehorchte. »Ich habe nicht die Zeit, alles zu erklären, Kiall«, sagte der ältere Mann geduldig, »und ich habe auch keine Lust dazu. Ich habe immer geglaubt, daß ein Mann für sich selbst denken sollte. Wenn er sich auf andere verläßt, was seine Gedanken und Motive angeht, wird sein Gehirn ein leeres, nutzloses Ding. Warum ich zornig bin? Woher, glaubst du wohl, wissen die Nadir, welche Dörfer sich für einen Überfall lohnen, weil dort attraktive junge Frauen leben?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann denk nach, verdammt nochmal!«
»Sie schicken Späher aus?« versuchte es Kiall.
»Natürlich. Wie sonst?«
»Sie hören Händlern, Kaufleuten, Kesselflickern und anderen Leuten zu, die durch diese Dörfer kommen?«
»Gut. Und worauf sind sie aus?«
»Auf Informationen«, antwortete Kiall. »Aber ich verstehe nicht, wohin uns das führt.«
»Dann gib mir Zeit. Wie erfährt man in einem Dorf, was in einem anderen Dorf vor sich geht?«
»Durch Händler, Reisende, Dichter – sie alle bringen Neuigkeiten mit«, sagte Kiall. »Mein Vater sagte, daß sie auf diese Weise ihr Geschäft beleben: Die Leute scharten sich um ihre Wagen, um den neuesten Klatsch zu hören.«
»Genau. Und welchen
Klatsch
wird der nächste Reisende erzählen?«
Kiall wurde rot und mußte schlucken. »Er wird die Geschichte von den Helden von Bel-Azar erzählen, die auf der Suche nach Ravenna sind«, flüsterte er.
»Und wer wird von dieser Heldentruppe hören?« fragte Chareos. Seine Augen waren schmale Schlitze, sein Mund eine dünne Linie.
»Die Nadren«, murmelte Kiall. »Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«
»Stimmt, hast du nicht!« wütete Chareos. »Ich hörte von deinem Streit mit dem Bauern und von deiner Drohung mit dem Messer. Eins solltest du dir merken, Kiall. Was wir tun, ist einfach. Begreif das. Einfach! Doch was die Dorfbewohner tun, ist schwer. Sie hofften und beten, um genug Regen zu bekommen, damit die Saat aufgeht und damit genug Sonne, daß die Ernte reift. Niemals wissen sie, wann Dürre, Hunger oder Räuber ihr Leben zerstören und die Menschen nehmen, die sie lieben. Frag mich nicht immer nach Erklärungen. Gebrauche deinen Verstand.«
Finn kam durchs Gebüsch. »Okas ist zurück. Er sagt, wir müssen ungefähr hundertfünfzig Kilometer reisen, weitgehend durch schwieriges Gelände. Ich habe Maggrig losgeschickt, um Proviant zu kaufen. Ist das in Ordnung, Schwertmeister?«
»Ja. Danke, Finn. Wir brechen auf, sobald er zurück ist, und schlagen unser Lager woanders auf. Noch einen Abend mit diesem scheinheiligen Langweiler halte ich nicht aus.«
»Aber bedenke doch, Schwertmeister. Heute abend wird er die Dorfbewohner damit unterhalten, wie du ihn beglückwünscht hast. In künftigen Zeiten wird man sich als Chareos, den Freund des großen Norrals, an dich erinnern.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Chareos ihm kichernd zu.
Er ging durch das Unterholz zu Okas, der still mit Beltzer zusammensaß. Der alte Mann sah schrecklich erschöpft aus.
»Möchtest du dich für eine Weile ausruhen?« fragte Chareos.
»Nein. Wir haben noch eine lange Reise vor uns. Ich werde heute abend schlafen. Wenn wir ungefähr vier Stunden nach Süden reiten, finden wir einen guten Lagerplatz.«
»Lebt das Mädchen?« fragte Chareos. Kiall stellte sich hinter ihn.
»Sie lebte noch, als man sie zur Festungsstadt brachte«, antwortet Okas. »Darüber hinaus konnte ich nichts sehen. Die Entfernung ist zu groß für mich. Und ich habe nichts von ihr, woran ich mich halten könnte –
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