Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
trottete zu Kiall.
»Keine Bewegung!«
klang Okas’ Stimme in Kialls Gedanken.
»Bleib still sitzen. Ganz still.«
Der Löwe umrundete Kiall und entblößte seine gelben Fänge. Okas’ Lied wurde lauter, nahm einen hypnotischen Rhythmus an. Das Gesicht des Löwen war bedrohlich nahe vor Kialls Augen; die Zähne streiften seine Haut, und er konnte den Aasgeruch des Atems riechen. Dann trottete der Löwe zurück zu seinem Ehrenplatz und ließ sich nieder. Kiall stand zitternd auf. Chareos hatte die Zügel von Kialls Pferd genommen und reichte sie ihm schweigend. Langsam zog sich die Gruppe von dem Wasserloch zurück, den langen Hang hinunter bis auf das Plateau.
Okas kam wieder zu ihnen, und sie ritten eine Stunde, bis sie kurz vor Tagesanbruch in einem flachen Lavagraben ihr Lager errichteten.
Finn schlug Kiall auf die Schulter. »Nicht viele Männer werden von einem Löwen geküßt«, sagte er. »Davon kannst du noch deinen Kindern erzählen.«
»Ich dachte, er wollte mir den Kopf abreißen«, sagte Kiall.
»Ich hatte denselben Gedanken«, fauchte Chareos. »Hast du mein Zeichen für Stillschweigen nicht gesehen? Hast du Unterricht in Dummheit genommen, oder ist das ein natürliches Talent?«
»Laß ihn in Ruhe, Schwertmeister«, sagte Finn. »Du warst auch mal jung. Weißt du, warum der Löwe dich beschnuppert hat, Kiall?«
»Nein.«
»Er hat Duftdrüsen im Maul. Löwen markieren ihr Revier damit. Du hast Glück gehabt – meistens pinkeln sie, um die Grenzen ihres Reviers abzustecken.«
»In dem Fall fühlte ich mich doppelt glücklich«, sagte Kiall grinsend. Er wandte sich an Okas. »Wie lange brauchen wir noch bis zur Siedlung der Nadren?«
»Morgen … übermorgen.« Der alte Mann zuckte die Achseln. »Die Jäger sind überall. Wie müssen weiterhin vorsichtig sein.«
»Meinst du, Ravenna ist noch immer dort?« fragte Kiall Chareos.
»Das bezweifle ich. Aber wir werden herausfinden, wohin sie gegangen ist.«
»Mein Fehler von vorhin tut mir leid«, entschuldigte sich Kiall, als er sah, daß Chareos noch immer verärgert war.
Der ältere Mann lächelte. »Finn hatte recht. Wir waren alle einmal jung. Laß nur solche Fehler nicht zur Gewohnheit werden. Aber wir müssen noch über etwas reden. Es gibt keine Möglichkeit, alle Frauen zu retten, die von den Nadren vielleicht gefangenhalten werden. Dafür sind wir nicht stark genug. Also mache dich auf eine Enttäuschung gefaßt, Kiall. Wir können vielleicht herausfinden, wohin Ravenna geschickt wurde, aber mehr können wir nicht erreichen. Verstehst du das?«
»Aber wenn die Frauen dort sind, müssen wir doch wenigstens versuchen, sie zu befreien!«
»Wozu? Du hast selbst gesehen, welche Schwierigkeiten wir haben, auch nur zur Siedlung zu gelangen. Kannst du dir vorstellen, was wir für eine Chance hätten, wieder herauszukommen?«
Kiall wollte aufbegehren. Er überlegte verzweifelt, wie er Chareos umstimmen und ihm beweisen konnte, daß er Unrecht hatte. Doch Kiall hatte das trockene Land der Steppe selbst gesehen und wußte, daß sie keine Chance hatten zu entkommen, wenn sie sich mit vielleicht zwanzig befreiten Gefangenen belasteten. Doch er brachte es nicht über sich, Chareos zu antworten. Er wandte den Blick ab und starrte zu den Sternen empor.
»Ich weiß, daß du ein Versprechen gegeben hast, Kiall«, fuhr Chareos fort. »Ich weiß, was es dir bedeutet. Aber es war ein törichtes Versprechen. Das ganze Leben ist ein Kompromiß, und man kann nur sein Bestes geben.«
»Wie du schon sagst – ich habe ein Versprechen gegeben«, erwiderte Kiall. »Und es war töricht, ja. Aber vielleicht kann ich Ravenna zurückkaufen? Ich habe Gold.«
»Und die Nadren würden sie dir auch verkaufen – und einen Tag später, vielleicht noch eher, würden sie dir nachreiten, dich töten und zurückholen, was sie verkauft haben. Wir haben es hier nicht mit Ehrenmännern zu tun.«
»Wir werden sehen«, sagte Kiall. »Es mag ja alles stimmen, was du sagst. Aber laß uns keine Entscheidung treffen, ehe der Tag da ist.«
»Wenn die Sonne aufgeht, ist der Tag da«, erwiderte Chareos.
Kiall legte sich zum Schlafen nieder, doch seine Gedanken kamen nicht zu Ruhe. Er hatte davon geträumt, wie ein Ritter seiner Liebsten nachzujagen; er hatte sich vorgestellt, wie sie an seiner Seite zurückkehrte, wie ihre Dankbarkeit und Liebe ihm Kraft gab.
Aber jetzt war es fast vier Monate her, seit sie gefangen wurde, und es war ebenso wahrscheinlich, daß sie inzwischen
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