Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
zusammengezogen und alles erreicht, was Ulric nicht vollbracht hat.«
Kesa Khan schwieg einen Augenblick. »Kannst du mir diesen Mann zeigen?«
Dardalions Augen wurden schmal. »Aber du hast ihn doch bestimmt gesehen? Er ist der, der die Stämme eint. Der Mann, von dem du sprichst.«
»Nein, das ist er nicht.«
Dardalion seufzte. »Nimm meine Hand, Kesa Khan, und teile meine Erinnerungen.« Der Schamane schloß seine Hand fest um Dardalions. Er schauderte, und seine Gedanken verschwammen. Dardalion konzentrierte sich, und gemeinsam wurden sie Zeuge des Aufstiegs von Ulric Khan, dem Verschmelzen der Stämme; sie sahen die gewaltigen Horden die Steppe überfluten, die Plünderung Gulgothirs und die erste Belagerung von Dros Delnoch.
Sie sahen, wie der Bronzegraf die Nadir zurückschlug, die Unterzeichnung des Friedensvertrages, die Einhaltung der Bedingungen, die Hochzeit zwischen dem Sohn des Grafen und einer von Ulrics Töchtern, und die Geburt des Kindes Tenaka Khan, der Schattenprinz, der König Jenseits des Tores.
Dardalion spürte, wie Kesa Khans Stolz anschwoll, unmittelbar gefolgt von Verzweiflung. Die Trennung erfolgte abrupt und ließ den Drenai aufstöhnen. Er schlug die Augen auf und sah die Angst in Kesa Khans Gesicht. »Was ist los? Was stimmt nicht?«
»Diese Frau … Miriel. Von ihr kommt die Linie der Männer, die zu dem Bronzegrafen führt?«
»Ja – ich dachte, das hättest du begriffen? Du wußtest, daß hier ein Kind empfangen würde.«
»Aber doch nicht von ihr, Drenai! Ich wußte nichts von ihr! Die Linie Ulrics beginnt auch hier.«
»Und?«
Kesa Khan atmete flach; sein Gesicht war verzerrt. »Ich … ich glaubte, Ulric wäre der, der die Stämme eint. Und daß Miriels Nachkommen versuchen würden, ihn in Schach zu halten. Ich … sie …«
»Heraus damit, Mann!«
»Da sind Ungeheuer, die den Kristall bewachen. Es waren drei, aber ihr Hunger war groß, und so wandten sie sich gegeneinander. Jetzt gibt es nur noch eins. Zhu Chao schickte Männer her, um mich zu töten. Karnaks Sohn, Bodalen, war einer von ihnen. Der Kristall verschmolz sie.«
»Du konntest die Mauer die ganze Zeit durchbrechen! Was ist das für ein Verrat?« tobte Dardalion.
»Das Mädchen wird dort unten sterben. Es steht geschrieben!« Das Gesicht des Schamanen war bleich; er war schwer getroffen. »Ich habe die Blutlinie dessen, der die Stämme eint, zerstört.«
»Noch nicht«, sagte Dardalion und sprang auf.
Kesa Khan packte den Priester am Arm. »Du verstehst nicht! Ich habe einen Pakt mit Shemak getroffen. Sie wird sterben. Nichts kann das jetzt noch ändern.«
Dardalion riß sich los. »Nichts ist unveränderlich. Und kein Dämon wird mich beherrschen!«
»Wenn ich es ändern könnte, würde ich es tun«, jammerte Kesa Khan. »Der die Stämme eint – er bedeutet mir alles! Aber es muß einen Tod geben. Du kannst ihn nicht aufhalten!«
Dardalion stürmte aus dem Raum, die gewundene Treppe zur Halle hinunter und weiter zu dem Treppenabgang, der zu den unterirdischen Kammern führte. Gerade als er die Dunkelheit betrat, pulsierte Vishna ihn von den Wehrgängen her an: »Die Bruderschaft greift an! Wir brauchen dich, Dardalion!«
»Ich kann nicht!«
»Ohne dich sind wir verloren! Die Festung wird fallen!«
Dardalion schrak vor dem Türdurchgang zurück; seine Gedanken rasten. Hunderte von Frauen und Kindern würden erschlagen, wenn er seinen Posten verließ. Doch wenn er es nicht tat, war Miriel verloren. Er fiel in der Tür auf die Knie, suchte verzweifelt den Weg des Gebets, doch sein Geist war verloren in Gedanken an das kommende Chaos. Eine Hand berührte seine Schulter. Er sah auf. Es war der narbenbedeckte, häßliche Gladiator.
»Bist du krank?« fragte der Mann. Dardalion stand auf und holte tief Luft. Dann erzählte er Angel alles. Das Gesicht des Mannes war grimmig, als er zuhörte. »Ein Tod, sagst du? Aber es muß nicht gerade Miriels Tod sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde auf der Mauer gebraucht. Ich kann nicht zu ihr gehen.«
»Aber ich«, sagte Angel und zog sein Schwert.
19
Zhu Chao stand auf dem Balkon, lehnte sich über das vergoldete Geländer und starrte zu den Wehrgängen seines Palastes. Hier gab es nicht die üblichen, schmucklosen Zinnen, sondern schwungvolle Hohlkehlen und Kurven, wie es sich für einen Edlen aus Kiatze geziemte. In den Gärten wuchsen duftende Bäume und Blumen; kunstvoll angelegte Pfade wanden sich zwischen Teichen und künstlichen Bachläufen
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