Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
hindurch. Es war ein Ort stiller Schönheit.
Aber er war auch stark. Zwanzig Männer, bewaffnet mit Bogen und Schwert, marschierten über die vier Mauern, während vier weitere – aufmerksam und mit scharfen Augen – die Scheintürme an jeder Ecke bemannten. Die Tore waren verriegelt, und sechs wilde Hunde bewachten den Garten. Zhu Chao konnte im Augenblick einen von ihnen sehen, wie er auf allen vieren neben einem gewundenen Pfad lag. Sein schwarzes Fell machte ihn fast unsichtbar.
Hier bin ich sicher, dachte Zhu Chao. Nichts kann mir etwas anhaben.
Warum habe ich dann solche Angst?
Er schauderte und zog sein mit Lammfell gefüttertes Gewand aus purpurfarbener Wolle enger um seine schlanke Gestalt.
Kar-Barzac entwickelte sich zur Katastrophe. Kesa Khan lebte immer noch, und die Nadir verteidigten die Mauern wie besessen. Innicas war tot, die Bruderschaft praktisch vernichtet. Und Galen war bei seiner Rückkehr zur Armee der Drenai unerklärlicherweise ermordet worden. Er war ins Zelt von General Asten gegangen und hatte ihm von dem tragischen Verrat berichtet, der mit dem Tod von Karnak endete. Asten hatte schweigend zugehört, war dann aufgestanden und auf den Krieger der Bruderschaft zugetreten. Plötzlich packte er Galen bei den Haaren und riß seinen Kopf zurück. Ein Messer blitzte auf. Blut schoß aus Galens Kehle. Zhu Chao hatte alles mit angesehen – den sterbenden Krieger, der zu Boden fiel, den untersetzten General, der über ihm stand.
Zhu Chao schauderte. Alles lief verkehrt.
Und wo war Waylander?
Dreimal hatte er den Suchzauber gesprochen. Dreimal hatte er versagt. Aber heute abend wird alles wieder gut, beruhigte er sich. Der Vorabend von Mittwinter und das große Opfer. Macht wird mich durchströmen, das Geschenk des Chaos wird mein sein. Dann werde ich Kesa Khans Tod
verlangen.
Morgen wird der ventrische König tot sein. Seine Truppen werden sich an die Bruderschaft als ihre Führer wenden, ebenso die Drenaisoldaten. Galen war nicht der einzige loyale Ritter unter ihnen. Asten würde sterben, genau wie der Kaiser.
Drei Reiche würden eins.
Dann gelten für mich nicht mehr die kleinlichen Titel König oder Kaiser. Mit dem Kristall in meinen Händen werde ich der Göttliche Zhu Chao sein, Herrscher über alles, König der Könige. Der Gedanke gefiel ihm. Er warf einen Blick auf die nächste Mauer, beobachtete die Soldaten, die über die Brüstung marschierten. Starke Männer. Treu. Loyal. Ich bin sicher, sagte er sich noch einmal.
Er blickte zu dem links von ihm liegenden Turm. Der Soldat saß mit dem Rücken nach außen. Und schlief! Zorn flackerte auf. Zhu Chao pulste ihm einen Befehl zu, doch der Mann regte sich nicht. Der Zauberer rief in Gedanken Casta, den Hauptmann der Wache.
»Ja, Herr?« kam die Antwort.
»Die Wache auf dem Ostturm. Laß den Mann in den Hof bringen und auspeitschen. Er schläft.«
»Sofort, Herr.«
Wie sicher bin ich, wenn mich solche Leute bewachen? »Und noch etwas, Casta!«
»Ja, Herr?«
»Wenn er ausgepeitscht wurde, schneide ihm die Kehle durch.« Zhu Chao machte auf dem Absatz kehrt und ging in seine Wohnräume zurück. Seine gute Stimmung war dahin. Er hatte das Verlangen nach Wein, hielt sich jedoch zurück. Heute abend mußte das Opfer ohne jeden Fehler dargebracht werden. Er dachte an Karnak in Ketten, an das gekrümmte Opfermesser, das sich langsam in die Brust des Drenais bohrte. Seine Stimmung hob sich.
Dies ist mein letzter Tag als Diener anderer, dachte er. Ab morgen früh werde ich der Herrscher der drei Reiche sein.
Nein, nicht ehe der Kristall in deiner Macht ist. Denn nur dann erlangst du Unsterblichkeit. Nur dann wirst du wieder vollständig sein. Ein Muskel an seinem Kinn zuckte, und er sah wieder das unheilige Feuer und den scharfen kleinen Dolch in Kesa Khans Hand. Haß durchströmte ihn, und Scham stieg ihm wie Säure in die Kehle.
»Du wirst dein Volk sterben sehen, Kesa Khan«, zischte er. »Jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Und du sollst wissen, wer dafür verantwortlich ist. Das ist der Preis für das, was du mir gestohlen hast!«
Seine Erinnerungen hallten wider von dem erlittenen Schmerz und den Monaten des entsetzlichen Leidens, die auf seine Verstümmelung gefolgt waren. Aber der Kristall würde alles ändern. Das Dritte Buch der Beschwörungen sprach davon. Einst hatte man einen alten Ritter, dem eine Lichtwaffe den Arm abgehackt hatte, in die Kammer gebracht. Man hatte ihn auf ein Bett gelegt und die Macht des
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