Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
die QUELLE sie zur Erde, um hier zu herrschen, wie sie im Himmel herrscht. Dieses Argument macht aus unserer Welt die Hölle. Und ich muß zugeben, daß manchmal alle Anzeichen dafür sprechen, daß dem so ist.
Doch bei all diesen Debatten versuchen wir, uns das Unvorstellbare vorzustellen, und darin liegt eine große Gefahr. Die Quelle aller Dinge können wir nicht begreifen. Ihre Handlungen sind zeitlos und gehen so weit über unser Verständnis, daß sie uns ohne Sinn erscheinen. Dennoch versuchen wir unseren Verstand zu zwingen, sie zu verstehen. Wir bemühen uns, die Größe der QUELLE zu erfassen, sie in uns aufzunehmen und in passende Schubladen zu sortieren. Das führt zu Streit und Uneinigkeit, zu Zwietracht und Disharmonie. Und das sind die Waffen des Chaos-Geistes.« Dardalion stand auf, ging um den Eichenschreibtisch und stellte sich neben die beiden Priester, um ihnen die Hände auf die Schultern zu legen. »Wichtig ist, daß wir wissen, daß die QUELLE existiert, und auf ihr Urteil zu vertrauen. Versteht ihr? Ihr könntet beide recht und unrecht haben. Hier handelt es sich um die Ursache aller Ursachen, um die eine große Wahrheit in einem Universum voller Lügen. Wie könnten wir darüber urteilen? Aus welcher Perspektive? Wie nimmt die Ameise den Elefanten wahr? Alles, was die Ameise sieht, ist ein Teil des Fußes. Ist das der Elefant? Für die Ameise schon. Habt Geduld. Wenn der Tag des Ruhms kommt, wird alles enthüllt. Wir werden die QUELLE gemeinsam finden – wie wir es geplant haben.«
»Der Tag ist nicht mehr fern«, sagte Vishna ruhig.
»Nicht sehr«, stimmte Dardalion ihm zu. »Welche Fortschritte macht die Ausbildung?«
»Wir sind stark«, antwortete Vishna, »aber wir haben noch immer Probleme mit Ekodas.«
Dardalion nickte. »Schickt ihn heute abend zu mir, nach der Meditation.«
»Du wirst ihn nicht überzeugen können, Vater Abt«, warf Magnic schüchtern ein. »Er wird uns eher verlassen als kämpfen. Er kann seine Feigheit nicht überwinden.«
»Er ist kein Feigling«, entgegnete Dardalion und verbarg seinen Zorn. »Das weiß ich. Ich ging einst dieselbe Straße, träumte dieselben Träume. Manchmal kann man dem Bösen mit Liebe begegnen. Das ist in der Tat der beste Weg. Aber manchmal muß man das Böse mit Stahl und einem starken Arm bekämpfen. Doch du darfst Ekodas nicht einen Feigling nennen, weil er an hohen Idealen festhält. Das setzt dich im selben Maße herab, wie es ihn beleidigt.«
Der blonde Priester errötete heftig. »Es tut mir leid, Vater Abt.«
»Und jetzt erwarte ich einen Besucher«, sagte Dardalion. »Vishna, nimm ihn am vorderen Tor in Empfang und bringe ihn sofort in mein Studierzimmer. Magnic, geh in den Keller und hole eine Flasche Wein, etwas Brot und Käse.«
Beide Priester standen auf. »Noch eins«, sagte Dardalion, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Gebt dem Mann nicht die Hand und berührt ihn auch sonst nicht. Und versucht nicht, seine Gedanken zu lesen.«
»Ist er böse?« fragte Vishna.
»Nein, aber seine Erinnerungen würden euch verbrennen. Jetzt geht und wartet auf ihn.«
Dardalion kehrte wieder zum Fenster zurück. Die Sonne stand hoch am Himmel und schien auf die fernen Gipfel von Delnoch, und von seinem hohen Fenster aus konnte der Abt gerade noch die blasse graue Linie der ersten Mauer der Festung Delnoch erkennen. Seine Augen folgten den gewaltigen Berggipfeln von Westen nach Osten zum fernen Meer. Tiefhängende Wolken versperrten die Sicht, doch Dardalion stellte sich die Festung Dros Purdol vor, sah wieder die schreckliche Belagerung, hörte die Schreie der Sterbenden. Er seufzte. Vor den Mauern Purdols war das mächtige Vagria gedemütigt worden, und jene furchtbaren Kriegsmonate hatten den Lauf der Welt verändert. Gute Männer waren gestorben, von eisernen Speeren durchbohrt …
Die ersten Dreißig waren dort niedergemacht worden, als sie gegen die dämonischen Mächte der Bruderschaft kämpften. Dardalion hatte als einziger überlebt. Er schauderte, als er wieder schmerzhaft durchlebte, wie der Speer in seinen Rücken drang, und die Einsamkeit, als die Seelen seiner Freunde von ihm fortgeflogen waren, in den Ewigen Frieden der QUELLE. Die Dreißig hatten nur auf der astralen Ebene gekämpft und sich geweigert, in der Welt des Fleisches Waffen zu tragen. Wie unrecht sie gehabt hatten!
Die Tür hinter ihm ging auf, und er versteifte sich. Sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Rasch schloß er die
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