Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
einen besseren Mann. Die Gabe entspringt der Fähigkeit, jenen Teil der Vorstellungskraft abzuschirmen, der seine Nahrung aus Angst gewinnt. Du weißt schon, den Teil des Verstandes, der sich schreckliche Verletzungen und Wundbrand ausmalt, Blutströme und die Finsternis des Todes. Aber gleichzeitig muß der Verstand weiterfunktionieren, die Schwächen des Gegners erkennen, Wege durch seine Deckung finden. Ich bin oft verwundet worden, aber ich habe immer gesiegt. Und ich habe bessere Männer geschlagen, schnellere, stärkere Männer. Ich schlug sie, weil ich zu störrisch war aufzugeben. Und dann begann ihr Selbstvertrauen zu bröckeln, und die Fenster in ihrem Geist öffneten sich allmählich. Ihre Phantasie kroch hervor, und sie begannen zu zweifeln, sich zu fürchten. Und von diesem Moment an spielte es keine Rolle mehr, ob sie besser, stärker oder schneller waren. Denn ich wuchs in ihren Augen, und in meinen Augen schrumpften sie.«
»Ich werde es lernen«, versprach sie.
»Ich bezweifle, daß man so etwas lernen kann. Dein Vater wurde Waylander, weil seine erste Familie von Räubern niedergemetzelt wurde, aber ich glaube nicht, daß diese Tat Waylander
erschuf.
Er war immer da, unter der Oberfläche von Dakeyras. Die wahre Frage ist – was liegt unter der Oberfläche von Miriel?«
»Wir werden sehen«, meinte sie.
»Dann möchtest du, daß ich bleibe?«
»Ja. Ich möchte, daß du bleibst. Aber beantworte mir eine Frage.«
»Und wie lautet sie?«
»Wovor hast
du
Angst?«
»Warum glaubst du, daß ich vor irgend etwas Angst habe?« wich er aus.
»Ich weiß, daß du nicht bleiben wolltest, und ich spüre, daß du hin und her gerissen bist zwischen deinem Wunsch, mir zu helfen und dem Bedürfnis zu gehen. Also, was ist es?«
Angel blickte sie an. »Belassen wir es dabei, daß du recht hast. Es
gibt
etwas, das ich fürchte, aber ich will nicht darüber sprechen. So, wie du nicht über den Verlust deiner Gabe sprechen willst.«
Sie nickte. »Unter den Attentätern ist einer – oder mehrere – dem du nicht begegnen willst. Bin ich nahe dran?«
»Wir müssen den Griff deines Schwertes dicker machen«, sagte Angel. »Schneide ein paar Lederstreifen zurecht – dünn, nicht mehr als fingerbreit. Habt ihr Leim?«
»Ja. Vater macht ihn aus Fischgräten und Tierhaut.«
»Umwickle zuerst den Griff, bis er bequem für dich ist. Wenn du ihn umfaßt, sollte dein längster Finger die Hand unter dem Daumen nur eben berühren. Wenn du zufrieden bist, leime die Streifen fest.«
»Du hast mir nicht geantwortet«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Schneide und binde die Streifen heute abend. Dann hat der Leim Zeit zu trocknen. Ich sehe dich morgen früh.« Er stand auf und durchquerte den Raum.
»Angel!«
Seine Hand ruhte auf dem Türriegel. »Ja?«
»Schlaf gut.«
4
Dardalion drehte sich vom Fenster zu den beiden Priestern um, die vor seinem Schreibtisch standen.
»Das Argument«, erklärte er, »ist nur von intellektuellem Interesse. Es hat keine wirkliche Bedeutung.«
»Wie kann das sein, Vater Abt?« fragte Magnic. »Es ist doch sicherlich von zentraler Bedeutung für unseren Glauben?«
»Da muß ich meinem Bruder recht geben«, warf der gabelbärtige Vishna ein, dessen dunkle Augen den Abt anstarrten, ohne zu blinzeln. Dardalion bedeutete ihnen, sich zu setzen, und lehnte sich in seinem breiten Ledersessel zurück. Magnic sieht neben Vishna sehr jung aus, dachte Dardalion. Das blasse Gesicht mit den weichen Zügen, noch ohne Falten, das blonde, widerspenstige Haar, das ihm das Aussehen eines Jungen gab, der noch Jahre von den Zwanzig entfernt war. Vishna, hochgewachsen und streng, der schwarze gegabelte Bart sorgfältig gekämmt und geölt, sah alt genug aus, um Magnics Vater zu sein. Doch beide waren knapp vierundzwanzig.
»Die Debatte ist nur deshalb von Wert, weil sie uns über die QUELLE nachdenken läßt«, sagte Dardalion schließlich. »Die pantheistische Ansicht, daß Gott in allem existiert, in jedem Stein und jedem Baum, ist interessant. Wir glauben, daß das Universum von der QUELLE in einem einzigen Augenblick blendender Energie erschaffen wurde. Aus Nichts wurde Etwas. Was könnte dieses Etwas sein, außer dem Leib der QUELLE? So argumentieren die Pantheisten. Deine Ansicht, Magnic, daß die QUELLE losgelöst von der Welt existiert und daß hier nur der Chaos-Geist herrscht, ist ebenfalls weit verbreitet. Nach einem furchtbaren Krieg gegen ihre eigenen rebellischen Engel schleuderte
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