Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
Khan starrte finster in die grünen Flammen, ohne daß seine jettschwarzen Augen blinzelten. Er räusperte sich und spie ins Feuer. Seine Miene war ausdruckslos, sein Herz klopfte wild.
»Was siehst du, Schamane?« fragte Anshi Chen. Der alterswelke Schamane befahl mit einer Handbewegung Stille, und der untersetzte Häuptling gehorchte. Er konnte dreihundert Schwerter mobilisieren, aber er fürchtete den kleinen Mann so sehr, wie er nichts auf der Welt fürchtete, nicht einmal den Tod.
Kesa Khan hatte alles gesehen, was er brauchte, doch seine schrägen Augen blickten immer noch gebannt in die tanzenden Flammen. Mit einer knochigen Hand griff er in einen der vier irdenen Töpfe, die vor ihm standen, nahm eine Prise gelbes Pulver heraus und schnippte sie ins Feuer. Die Flammen flackerten auf, orange und rot; Schatten sprangen an die Höhlenwand und tobten wie Dämonen umher. Anshi Chen räusperte sich und schniefte laut. Seine dunklen Nadiraugen huschten nervös hin und her.
Kesa lächelte dünn. »Ich habe den Drachen im Traum gesehen«, sagte er mit einem zischenden Wispern.
Die Farbe wich aus Anshis Gesicht. »Dann ist es vorbei? Wir sind alle tot?«
»Vielleicht«, gab Kesa ihm recht. Er genoß die Furcht, die von dem Krieger ausging.
»Was können wir tun?«
»Was die Nadir stets getan haben. Wir werden kämpfen.«
»Die Gothir haben Tausende von Kriegern, gute Rüstungen, stählerne Schwerter, die nicht stumpf werden. Bogenschützen. Lanzenreiter. Wie können wir gegen sie kämpfen?«
Kesa schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der Kriegsherr der Wölfe, du bist es.«
»Aber du kannst in den Herzen unserer Feinde lesen! Du könntest Dämonen ausschicken, die ihnen die Bäuche aufreißen. Oder ist Zhu Chao mächtiger als Kesa Khan?« Für einen Moment herrschte Schweigen, dann beugte Anshi Chen sich vor und senkte den Kopf. »Vergib mir, Kesa. Ich sprach im Zorn.«
Der Schamane nickte. »Ich weiß. Aber in deiner Furcht liegt Wahrheit. Zhu Chao
ist
mächtiger. Er kann das Blut vieler Seelen in Anspruch nehmen. Der Kaiser hat tausend Sklaven, und viele Herzen werden auf den Altar des Dunklen Gottes gelegt. Und was habe ich?« Der kleine Mann drehte sich um und deutete auf die drei toten Hühnchen. Er lachte trocken. »Damit kann ich kaum Dämonen befehligen, Anshi Chen.«
»Wir könnten die Grünaffen überfallen und einige Kinder rauben«, schlug Anshi vor.
»Nein! Ich werde keine Kinder der Nadir opfern.«
»Aber sie sind der Feind.«
»Heute sind sie der Feind, aber eines Tages werden alle Nadir vereint – so steht es geschrieben. Dies ist die Botschaft, die Zhu Chao dem Kaiser gebracht hat. Deswegen taucht der Drache im Traum auf.«
»Dann kannst du uns nicht helfen?«
»Sei kein Narr, Anshi Chen. Ich helfe dir jetzt! Bald werden die Gothir gegen uns reiten. Wir müssen uns für diesen Tag vorbereiten. Unser Winterlager muß nahe den Mondbergen sein, und wir müssen bereit sein, dorthin zu fliehen.«
»Die Berge?« flüsterte Anshi. »Aber die Dämonen …«
»Entweder das, oder wir sterben. Deine Frauen und deine Kinder, und die Kinder deiner Kinder.«
»Warum nicht nach Süden fliegen? Wir könnten reiten, bis wir Hunderte von Kilometern von Gulgothir entfernt sind. Wir könnten uns unter andere Stämme mischen. Wie sollten sie uns dort finden?«
»Zhu Chao würde dich finden«, erwiderte Kesa. »Sei stark, Kriegsherr. Von einem aus unserer Mitte wird der Führer kommen, auf den die Nadir warten. Kannst du das verstehen? Der Mann, der die Stämme eint! Er wird die Gothirherrschaft beenden. Er wird uns die Welt geben.«
»Werde ich das noch erleben?«
Kesa schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich auch nicht«, versicherte er dem Häuptling.
»Es wird geschehen, wie du sagst«, versprach Anshi. »Wir werden unser Lager verlegen.«
»Und nach Belash schicken.«
»Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Südlich der neuen Festung der Drenai, in den Bergen, die sie Skeln nennen. Schicke Shia, daß sie ihn heimholt.«
»Belash liebt mich nicht, Schamane. Das weißt du.«
»Ich weiß viele Dinge, Anshi. Ich weiß, daß wir uns in den kommenden Tagen auf dein beständiges Urteil verlassen werden und auf deine Fähigkeiten. Du bist bekannt und geachtet als der Schlaue Fuchs. Aber ich weiß, daß wir die Macht Belashs brauchen, den Weißen Tiger in der Nacht. Und er wird einen anderen mitbringen: Er wird uns den Schatten des Drachen bringen.«
Ekodas blieb vor dem Studierzimmer des Abts stehen,
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