Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
wirkte dunkel; die Berge und Ebenen von Ventria erstreckten sich nach Osten, während hier, an der Küste, hell erleuchtete Städte und Häfen wie Juwelen auf einem schwarzen Mantel schimmerten. Dardalion flog hinab, hinab … Die beiden Priester schwebten ein paar hundert Meter hoch in der Luft, und Ekodas sah die zahlreichen Schiffe, die hier vor Anker lagen, hörte das dröhnende Hämmern der Waffenschmiede in der Stadt.
»Die ventrische Kriegsflotte«, sagte Dardalion. »Sie wird im Laufe der Woche auslaufen. Sie werden Purdol, Erekban und Lentrum angreifen und Armeen an Land setzen, um in Drenai einzumarschieren. Krieg und Zerstörung.«
Er flog weiter, überquerte die hohen Berge und glitt dann über eine Stadt aus Marmor, deren Häuser in gitterförmig angelegten Prachtstraßen und einem Gewirr kleiner Straßen lagen. Auf dem höchsten Hügel stand ein Palast, umgeben von hohen Mauern, die von zahlreichen Wächtern in goldbetreßten, weißsilbernen Rüstungen bemannt waren. Dardalion flog in den Palast, durch die Mauern und die Wandbehänge aus Samt und Seide, bis er schließlich in ein Schlafzimmer kam, wo ein Mann mit dunklem Bart im Schlaf lag. Über dem Mann schwebte sein Geist, formlos und vage, unbewußt und unwissend.
»Wir könnten den Krieg jetzt aufhalten«, sagte Dardalion, in dessen Hand ein silbernes Schwert erschien. »Ich könnte die Seele dieses Mannes erschlagen. Dann wären Tausende von Drenaibauern und Soldaten, Frauen und Kindern in Sicherheit.«
»Nein!« schrie Ekodas und schwebte rasch zwischen den Abt und den formlosen Geist des ventrischen Königs.
»Glaubst du wirklich, ich würde so etwas tun?« fragte Dardalion traurig.
»Ich … ich, es tut mir leid, Vater. Ich sah das Schwert und …« Seine Stimme brach.
»Ich bin kein Mörder, Ekodas. Und ich kenne nicht den ganzen Willen der QUELLE. Den kennt niemand. Und niemals wird ein Mensch ihn kennen, auch wenn es viele gibt, die dieses Wissen zu besitzen behaupten. Nimm meine Hand, mein Sohn.« Die Mauern des Palastes verschwanden, und mit schwindelerregender Geschwindigkeit überquerten die beiden Seelen noch einmal das Meer, diesmal nach Nordosten. Farben zuckten vor Ekodas’ Augen, und hätte Dardalion ihn nicht so fest gehalten, wäre er in den wirbelnden Lichtern verlorengegangen. Sie wurden langsamer, und Ekodas blinzelte, um sich wieder zurechtzufinden. Unter ihm lag eine weitere Stadt mit Marmorpalästen. Ein riesiges Amphitheater im Westen und ein gewaltiges Stadion für Wagenrennen im Zentrum wiesen sie als Gulgothir aus, die Hauptstadt des Gothirreiches.
»Was wollen wir hier sehen, Vater?« fragte Ekodas.
»Zwei Männer«, antwortete Dardalion. »Wir haben die Pforten der Zeit durchschritten, um hier zu sein. Die Szene, die du sehen wirst, geschah vor fünf Tagen.«
Immer noch die Hand des jungen Priesters haltend, schwebte Dardalion über die Palastmauern in einen kleinen Raum hinter dem Thronsaal. Der Kaiser der Gothir saß auf einem seidenbespannten Diwan. Er war ein junger Mann, nicht älter als zwanzig, mit großen, vorstehenden Augen und einem fliehenden Kinn, das von einem Bärtchen halb verdeckt wurde. Auf einem niedrigen Hocker vor ihm saß ein zweiter Mann, in lange dunkle Gewänder aus schimmernder Seide gekleidet, die mit Silber bestickt waren. Sein Haar war dunkel und mit Öl flach an den Schädel geklebt; die Koteletten waren unnatürlich lang und hingen geflochten bis auf die Schultern. Seine Augen unter den dichten hohen Brauen waren schräg; sein Mund bildete eine dünne Linie.
»Du sagst, das Reich ist in Gefahr, Zhu Chao«, sagte der Kaiser, dessen tiefe Stimme, volltönend und stark, sein schwächliches Äußeres Lügen strafte.
»In der Tat, Majestät. Wenn Ihr nicht handelt, werden Eure Nachkommen abgesetzt, Eure Städte erobert. Ich habe die Omen gelesen. Die Nadir warten nur auf den, der die Stämme eint. Und er wird kommen, vom Stamme der Wolfsschädel.«
»Und was kann ich dagegen tun?«
»Wenn die Wölfe deine Schafe töten, mußt du die Wölfe töten.«
»Du sprichst von einem ganzen Stamm der Nadir.«
»Allerdings, Majestät. Achthundertundvierzig Wilde. Sie sind keine Menschen, so wie Ihr und ich dieses Wort verstehen. Ihre Leben sind bedeutungslos. Aber ihre künftigen Söhne könnten das Ende der Zivilisation der Gothir bedeuten.«
Der Kaiser nickte. »Es wird einige Zeit dauern, um genügend Männer für diese Aufgabe zu sammeln. Wie du weißt, stehen die Ventrier kurz davor,
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