Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
um seine Gedanken zu sammeln. Er liebte das Leben im Tempel, die Ruhe und Kameradschaft, die Stunden des Studierens und der Meditation, selbst die körperlichen Übungen: Laufen, Bogenschießen und Schwertfechten. Er fühlte sich in jeder Weise als Teil der Dreißig.
Mit einer Ausnahme.
Er klopfte an die Tür; dann drückte er die Klinke herunter. Der Raum wurde durch drei verglaste Laternen erhellt, und er sah Dardalion am Schreibtisch sitzen, über eine Karte aus Ziegenleder gebeugt. Der Abt blickte auf. In dem sanften Licht wirkte er jünger; die silbernen Strähnen in seinem Haar sahen aus wie schimmerndes Gold.
»Willkommen, mein Junge. Komm herein und setz dich.« Ekodas verbeugte sich und ging zu einem Stuhl. »Sollen wir unsere Gedanken teilen, oder möchtest du lieber laut sprechen?« fragte Dardalion.
»Ich möchte sprechen, Vater.«
»Schön. Vishna und Magnic erzählten mir, daß du noch immer Kummer hast.«
»Ich habe keinen Kummer, Vater. Ich weiß, was ich weiß.«
»Und du siehst keine Arroganz darin?«
»Nein. Meine Überzeugungen sind nur die gleichen wie deine, ehe du deine Abenteuer mit dem Mörder Waylander erlebt hast. Hattest du damals unrecht?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Dardalion. »Aber inzwischen bin ich nicht mehr der Meinung, daß es nur noch einen einzigen Weg zur QUELLE gibt. Egel war ein Mann mit Visionen und ein Gläubiger. Dreimal am Tag betete er um Führung. Doch er war auch ein Soldat, und durch ihn – ja, auch durch Karnak – wurde das Land der Drenai vor dem Feind gerettet. Jetzt ist er tot. Glaubst du, die QUELLE hat sich geweigert, seine Seele ins Paradies zu führen?«
»Die Antwort darauf weiß ich nicht«, sagte der junge Mann. »Aber ich weiß, daß ich gelehrt wurde – von dir und anderen –, daß Liebe das größte Geschenk der QUELLE ist. Liebe zu allem Leben, zu ihrer ganzen Schöpfung. Jetzt aber höre ich von dir, daß ich ein Schwert tragen und Leben nehmen soll. Das kann nicht richtig sein.«
Dardalion lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, die Hände gefaltet wie im Gebet. »Akzeptierst du, daß die QUELLE den Löwen schuf?«
»Natürlich.«
»Und das Reh?«
»Ja – und der Löwe schlägt das Reh. Das weiß ich. Ich verstehe es nicht, aber ich akzeptiere es.«
»Ich möchte fliegen«, sagte Dardalion. »Komm mit mir.«
Der Abt schloß die Augen. Ekodas machte es sich in seinem Sessel etwas bequemer und ließ die Arme auf den gepolsterten Lehnen ruhen; dann holte er tief Luft. Die Freilassung des Geistes wirkte bei Dardalion mühelos. Für Ekodas dagegen war es meist außerordentlich schwierig, als ob seine Seele mit Widerhaken am Fleisch hinge.
Er folgte den Lektionen, die er seit zehn Jahren lernte, wiederholte die Mantras, klärte seinen Geist.
Die Taube im Tempel
, die sich öffnende Tür, der goldene Kreis im blauen Feld, ausgebreitete Flügel im goldenen Käfig, das Abstreifen der Ketten auf dem Boden des Tempels.
Er spürte, wie er seinen Körper loszulassen begann, als ob er in den warmen Wassern des Mutterschoßes trieb. Hier war er sicher, zufrieden. Das Gefühl kehrte zurück: sein Rücken am harten Holz des Stuhles, seine Füße in den Sandalen auf dem kalten Fußboden. Nein, nein, schalt er sich selbst. Du verlierst es! Er verstärkte seine Konzentration wieder. Aber er konnte nicht fliegen.
Dardalions Stimme flüsterte in seinen Gedanken. »Nimm meine Hand, Ekodas.«
Ein Licht schien golden und wärmend, und Ekodas nahm das Verschmelzen dankend hin. Die Freilassung erfolgte sofort, und sein Geist durchbrach den Tempel seines Körpers, stieg empor durch den zweiten Tempel aus Stein, um hoch am nächtlichen Himmel über Drenai zu fliegen.
»Warum ist es für mich so schwierig?« fragte er den Abt.
Dardalion – wieder jung, das Gesicht faltenlos – streckte eine Hand aus und berührte seinen Schüler an der Schulter. »Zweifel sind Ängste, mein Junge. Und Träume des Fleisches. Kleine Sünden, bedeutungslos, aber beunruhigend.«
»Wohin fliegen wir, Vater?«
»Folge mir und beobachte.« Sie flogen nach Osten, über das glitzernde, sternenbeschienene Ventrische Meer. Ein Sturm tobte hier, und weit unter ihnen kämpfte eine kleine Trireme gegen die Elemente. Große Wellen schlugen über ihrem flachen Deck zusammen. Ekodas sah, wie ein Seemann über Bord gespült wurde, wie er in den Wellen versank, wie der glitzernde Funke seiner Seele aufstieg und verschwand.
Das Land unter ihnen
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