Die dritte Ebene
Leichenhallen, die der Sturm verschont hatte, überfüllt von Menschen. Der Gouverneur von Alabama rief in den Abendstunden des Maitages den Notstand aus, und die Nationalgarde unterstützte die Rettungskräfte bei den Bergungsarbeiten. Das Ausmaß der Zerstörungen war gewaltig. Es würde Wochen, ja Monate dauern, bis die gröbsten Spuren des Hurrikans beseitigt wären – manche würden noch lange sichtbar sein. Amy kostete über einhunderttausend Menschen das Leben.
Währenddessen atmeten die Bewohner der Westküste um Los Angeles auf. Zwar hatte der Zyklon Bert die Küstenregion der Baja California gestreift, doch die Tiefdruckrinne hatte sich zunehmend nach Nordwesten auf den Pazifik hinaus verlagert. Knapp 500 Kilometer vor der Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika löste sich der Sturm über dem Pazifik auf. Nur ein paar Hütten und Strandkörbe von Hotels waren umgerissen worden. Todesopfer gab es keine zu beklagen. Die Westküste der Vereinigten Staaten war nur knapp einer Katastrophe entgangen.
Racine, Wisconsin
Suzannah Shane hatte es sich mit ihren Büchern auf dem Balkon ihrer Wohnung an der Oakes Road gemütlich gemacht und die dicke Strickjacke übergezogen, als der Wind von Süd auf Westen drehte. Die Sonne hatte sich hinter einem dichten Wolkenband versteckt, und über dem Lake Michigan waren dunkle Wolken aufgezogen, die nach Racine herübertrieben.
Innerlich fluchte sie, weil sich der anfänglich sonnige Tag doch noch zu einem Regentag entwickelte. Es war ihr erster Urlaubstag, und sie hatte sich geschworen, diesmal richtig auszuspannen, zu lesen und einfach nur die Stunden am See zu genießen. Vielleicht würde sie ein paar Tage an die Ostküste fahren oder hinunter nach New York, wo ihre Schwester wohnte, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie keinerlei Lust dazu.
Nach dem heftigen Streit mit ihrer Mutter stand zumindest Baltimore nicht auf ihrem Programm.
»Auf der einen Seite hast du Erfolg in deinem Beruf, aber im Leben findest du dich nicht zurecht, da versagst du ständig«, hatte ihre Mutter ihr vorgeworfen, als sie vor zwei Wochen miteinander telefonierten. Suzannah war ausgerastet und hatte die Kontrolle verloren. Sie hatte ihren Stolz, und als Versagerin bezeichnet zu werden, ließ sie sich nicht gefallen. Eigentlich taten ihr die barschen Worte leid, mit denen sie ihre Mutter in die Schranken gewiesen hatte. Doch zu einem Besuch und zu einer Entschuldigung war Suzannah noch nicht bereit. Seither herrschte Funkstille. So hatte Suzannah beschlossen, in der ersten Woche erst einmal richtig auszuspannen.
Ein kräftiger Windstoß fegte über ihren Balkon und verblätterte die Seiten des Buchs, das in ihrem Schoß lag. Romeo und Julia, der Klassiker von Shakespeare über die romantische, aber auch verhängnisvolle Liebe zweier Menschen, die nicht zusammenkommen durften.
Liebe, Treue, Leidenschaft – das war etwas, was in ihrem Leben keinen Platz mehr einnahm. Sie hatte nur einmal in ihrem Leben wirklich geliebt, doch das war nun schon Jahre her. Kurz vor der geplanten Hochzeit war dieser Kerl einfach aus ihrem Leben verschwunden. Es hatte ihr das Herz gebrochen, und dieser Bruch war nie mehr richtig verheilt. Zwar gab es danach einige Romanzen, eine Ehe sogar, aber das beglückende Gefühl der Liebe war nie mehr wieder in ihr Leben zurückgekehrt. Ihre überstürzte Ehe mit einem Arzt war gescheitert.
Er konnte ihr nicht geben, wonach sie sich sehnte, und ihr wurde klar, dass ihre erste große Liebe ihr Glück einfach mit sich genommen hatte und sich einen Dreck darum scherte, was aus ihr werden würde. Seither verschlang sie Literatur, die von unglücklichen Liebschaften handelte. Es war alles, was ihr geblieben war, doch ihr mangelndes Glück in der Liebe lag keineswegs an ihrem Aussehen. Seit der Scheidung von Andrew, den sie bei einem gemeinsamen Forschungsprojekt am Memorial Hospital kennengelernt hatte, joggte sie mindestens zweimal in der Woche. Der Lohn ihrer Mühe war eine makellose Figur, die sie durch tägliches Hanteltraining im Kraftraum der Universität abrundete. Ihre rötlich schimmernden, glatten Haare und ihr dunkler Teint ließen sie ein wenig verwegen erscheinen. Auch wenn sie schon Mitte dreißig war, gab es noch immer Männer, die sich nach ihr umdrehten. Ihre Depressionen bekämpfte sie mit ihrer Arbeit, die mittlerweile zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden war. Sie hatte sich als Neuropsychologin und eine der bedeutendsten
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