Die dritte Ebene
Schlafforscherinnen in den Vereinigten Staaten einen Namen gemacht. Der Weg zur Professur war geebnet. Nur selten ließ sie sich auf Affären ein – mehr als ein paar One-Night-Stands hatte es in den letzten Jahren nicht gegeben. Ihr Arbeitstag betrug manchmal bis zu sechzehn Stunden. Keine Zeit mehr für die Suche nach der Liebe und keine Zeit mehr für Depressionen. Keine Zeit für weitere Enttäuschungen. »Stolpern ja, fallen nie wieder«, war zu ihrem Lebensmotto geworden. Daran änderten auch die ständigen Vorwürfe ihrer Mutter nichts.
Erneut blies eine kalte Windböe über ihren Balkon, der sich auf der Seeseite ihres Apartmenthauses befand. Die Dreizimmerwohnung, die sie sich gekauft hatte, lag direkt am Lake Michigan, in einer der teuersten Gegenden. Eine abgeschlossene Wohnanlage für die gehobene Mittelschicht. Sogar einige Schauspieler aus Hollywood hatten sich hier für viel Geld Apartments gekauft, um dem Stress der Filmstadt zu entfliehen und ein paar Tage am See auszuspannen. Drei lang gestreckte Bauten vereinigten sich zu einem nach Westen hin geöffneten Karo. In der Mitte befanden sich ein riesiger Swimmingpool und eine Bar. Nur Bewohner und deren Gäste erhielten Einlass in die exklusive Wohnanlage. In der Tiefgarage stand ihr gelber Porsche, den sie sich vor ein paar Monaten gekauft hatte und mit dem sie nach Chicago fuhr, bis auf die Tage, an denen sie wieder einmal in ihrem kleinen Zimmer in der Uni übernachtete, weil sich die Heimfahrt entlang des Lake Michigan nicht mehr lohnte. Geld war kein Problem. Ihr monatlicher Verdienst war ordentlich, und ihre Veröffentlichungen in verschiedenen wissenschaftlichen Fachzeitschriften brachten ihr von Zeit zu Zeit zusätzliche Einnahmen. Gemessen an ihrem Stand, ihrer Reputation und ihrem materiellen Besitz hätte sie durchaus glücklich sein können, doch sie wusste und hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihr das Wesentlichste für immer fehlen würde.
Das Telefon klingelte und riss sie aus ihren Gedanken. Die ersten Urlaubstage waren am schlimmsten. Sie betrat ihre Wohnung und nahm den Hörer ab.
»Hallo, Suzi«, erklang die Stimme ihrer Schwester Peggy aus dem Lautsprecher. »Ich wollte mich mal bei dir melden. Wegen deines Urlaubs und so.«
Erleichtert atmete Suzannah auf. Sie hatte schon befürchtet, dass jemand aus der Uni am Apparat wäre und ihr Urlaub ein jähes Ende finden würde.
»Du, ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann«, sagte Suzannah. »Ich muss erst einmal zu mir selbst finden. Der ganze Stress in der letzten Zeit …«
»Wann warst du eigentlich das letzte Mal bei uns? Vor einem Jahr? Versprochen hast du es oft. Die kleine Sarah wird ihre Patentante überhaupt nicht mehr wiedererkennen. Du igelst dich immer mehr ein. Mutter hat dich fast schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Sie macht sich Sorgen.«
»Sorgen?«
»Hast du eigentlich noch Freunde?«
Suzannah seufzte. »Doch nicht schon wieder diese Nummer. Es geht mir gut. Ich verdiene reichlich Geld, ich kann mir was leisten, mein Sexualleben ist nach wie vor aufregend, und mein letzter Arztbesuch war auch okay.«
»Als ob das alles wäre«, erwiderte Peggy. »Ich meine, das Leben besteht doch aus mehr als aus Arbeit und Schlaf. Was liegt bei dir dazwischen?«
Suzannah blickte an die Decke. »Hast du angerufen, um mir eine Moralpredigt zu halten, oder hat dich Mutter darum gebeten?«
»Nein, aber ich sorge mich eben um meine kleine Schwester. Und ich will nicht nur einmal alle zwei Monate mit ihr telefonieren, ich möchte sie wiedersehen. Ist das zu viel verlangt?«
»Und warum kommst du nicht einfach hierher?«
»Gute Idee, ich bringe die Kinder und Robert mit, und wir machen uns ein paar schöne Tage, während wir uns bei dir einnisten. Sagen wir übermorgen?«
Suzannah sog tief die Luft ein. Dieser Überfall war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
»Na, ist das eine Idee?«, fragte Peggy herausfordernd.
»Ich … ich weiß nicht …«
»Ich möchte jetzt zu gern dein Gesicht sehen«, sagte Peggy lachend. »Aber nun Spaß beiseite. Roberts Einheit wurde für die nächsten vier Wochen nach Mobile verlegt. Sie helfen dort unten bei den Aufräumarbeiten. Ich fahre für zwei Wochen mit den Kindern zu Mama, und ich würde mich freuen, wenn du ebenfalls ein paar Tage vorbeikommst. Sagen wir, nächstes Wochenende. Damit hast du auf einen Schlag alle Pflichttermine erledigt und kannst dich für den Rest deines Urlaubs ganz auf dich
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