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Die dritte Ebene

Die dritte Ebene

Titel: Die dritte Ebene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hefner
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Altarbild und dem aufgesetzten Rundbogen gebildet hatten. Zufrieden nickte er. Es war so, wie er es sich gedacht hatte. Der Rundbogen über dem Bild, für den oberflächlichen Betrachter aus Marmor geformt, bestand unter einer knapp zwei Zentimeter starken Marmorbeschichtung aus Gips. Und senkrecht über dem Gesicht der Maria befand sich eben an diesem Übergang ein dunkler Fleck. Er steckte das Skalpell zurück in die Scheide und holte das Kästchen mit den Fläschchen heraus. Dann benetzte er einen Wattebausch mit einer weißen Flüssigkeit und fuhr damit über den dunklen Fleck. Den Wattebausch teilte er in sechs Teile und gab je ein Stück in die sechs Fläschchen, die er anschließend in ein Futteral steckte. Schließlich stieg er die Leiter hinab. Unten angekommen, legte er seine Utensilien auf dem Boden ab und klappte die Leiter wieder ein. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sie zeigte drei Minuten vor vier. Zeit, von hier zu verschwinden, dachte er, gleichwohl ließ ihn seine Neugier nicht los. Er wollte wissen, ob seine Vermutung stimmte, und zog die Fläschchen noch einmal aus dem Futteral. Mit seiner Lampe prüfte er sorgfältig jedes einzelne der sechs gläsernen Behältnisse. Und tatsächlich, Nummer zwei und drei hatten sich verfärbt: Die klare Flüssigkeit von Nummer zwei hatte sich in eine dunkle Brühe verwandelt, und Nummer drei erstrahlte in leuchtendem Lila. Zufrieden atmete er ein, ehe ihn ein leises Geräusch zusammenfahren ließ. Er duckte sich, als auch schon der Schein einer Taschenlampe aufflammte und ihn erfasste.
    »Polizia!«, hallte es durch die Kirche. »Stia fermo!«
    Leon fuhr zusammen. Vor Schreck ließ er das Etui mit den Fläschchen zu Boden fallen.
    »E arrestato!«, erklang die Stimme erneut.
    Sein Herz raste, und er riss die Arme in die Höhe. Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Baltimore, Maryland
    Eigentlich hatte sie vorgehabt, nur über das Wochenende in Baltimore zu bleiben, doch Peggy hatte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Suzannah Shane hätte es wissen müssen. Und so wurde aus dem geplanten Wochenende eine ganze Woche. Insgeheim genoss sie die Zeit in ihrem Elternhaus, mit ihrer Schwester Peggy und deren süßen Kindern Sarah und Tom, und, ja, sogar mit ihrer Mutter. Obwohl es bisher noch zu keiner Aussprache zwischen Mutter und Tochter gekommen war. Vor allem der kleine Tom, gerade sechs Jahre alt geworden, hatte einen Narren an seiner Tante gefressen und ließ keinen Augenblick verstreichen, ohne in ihrer Nähe zu sein. Anstrengend war es mit den Kindern schon, doch Suzannah musste sich eingestehen, dass am Ende die Freude überwog. In ihrer Gegenwart schien der unterdrückte Mutterinstinkt zu erwachen, der tief in ihr schlummerte, obwohl Kinder bislang nie ein Thema für sie gewesen waren. Als Kind hatte sie wie die meisten anderen Mädchen mit Puppen gespielt, und als Teenager hatte sie sich ein Leben als Ehefrau und Mutter vorgestellt. Ein schönes Haus, einen fürsorglichen Mann und zwei süße Kinder. Über die Jahre hatte sie diese Vorstellung verdrängt. So, wie sie vieles in ihrem Leben verdrängt hatte. Sie wusste, warum sie immer wieder eine Krise durchlitt, sie kannte die Symptome und Folgen der Verdrängung, schließlich war Psychologie eines ihrer Studienfächer gewesen. Eine Zeit lang hatte sie sogar als Psychologin praktiziert, bevor es sie in die Forschung zog. Doch sich selbst zu helfen, das vermochte sie nicht.
    Seit drei Tagen waren Suzannahs Schlafstörungen wie weggeblasen, sie schlief wie ein Murmeltier. Auch an diesem Morgen hatte Peggy sie wecken müssen, damit sie es noch rechtzeitig vor Mittag hinaus auf den Baltimore Cemetery East schafften. Seit einem halben Jahr war Suzannah nicht mehr am Grab ihres Vaters gewesen. John William Shane war vor vier Jahren an den Folgen eines Herzanfalls gestorben. Suzannah hatte Tränen in den Augen, als sie vor dem Grabstein aus weißem Marmor stand. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt.
    »Ich habe ganz vergessen, welche Farbe seine Augen hatten«, sagte Suzannah und legte den Strauß weißer Nelken auf das Grab.
    »Ich vermisse ihn ebenfalls«, antwortete Peggy. »Es ist nicht gerecht. Er war im besten Alter. Er hätte noch nicht sterben dürfen.«
    Suzannah legte ihrer Schwester den Arm um die Schultern. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
    Peggy atmete tief ein, dann richtete sie sich auf. »Wie geht es dir wirklich?«, fragte sie.
    Suzannah seufzte. »Wenn ich arbeite, dann

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