Die dritte Ebene
habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Nur abends manchmal oder an gewissen Wochenenden fühle ich mich echt beschissen. Manchmal beneide ich dich.«
Peggy streichelte über Suzannahs Arm. »Es ist schon komisch. Du hast einen tollen Job, bist gebildet, verdienst gut, fährst einen teuren Sportwagen und scheinst trotzdem nicht glücklich zu sein mit deinem Leben. Ich stehe zu Hause am Herd, kümmere mich um die Kinder und den Haushalt und warte darauf, dass Robert abends nach Hause kommt. Manchmal beneide ich dich um deine Freiheit und würde gern mit dir tauschen. Aber nur manchmal.«
»Man vermisst immer das am meisten, was man nicht mehr besitzt«, antwortete Suzannah.
Peggy ahnte, was sie damit sagen wollte. Sie sah ihre Schwester von der Seite an. »Hast du eigentlich je wieder etwas von ihm gehört?«
»Von Andrew?«
»Nein, ich meine nicht Andrew. Er war nur ein kleines Kapitel in deinem Leben. Ich meine ihn, den Kerl, der dich nicht loslässt und den du offensichtlich nicht vergessen kannst.«
Suzannah schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur, dass er noch immer als Journalist für irgend so ein Okkultismus-Blättchen unterwegs ist.«
»Es tut mir leid, ich weiß, wie du dich fühlst.«
»Tust du das wirklich?«
»Ich bin deine große Schwester«, sagte Peggy. »Lass uns in die Stadt fahren. Wir shoppen ein bisschen und setzen uns in ein Straßencafé. Und rede mit Mutter, sie hat dein Schweigen nicht verdient.«
»Du weißt von dem Streit, hat sie mit dir darüber geredet?«
»Sie leidet sehr darunter. Ich weiß doch, wie stolz sie auf dich ist.«
Hotel Orion, Venedig
Das Leben kehrte in die engen Gassen zurück. In der beginnenden Morgendämmerung schob ein kleiner, untersetzter Mann in signalroter Weste eine Karre über den kleinen Campo San Zulian. Der Wagen war angefüllt mit Müll, den er kurz zuvor von der Merceria gekehrt hatte. Auch an diesem Tag würden wieder die Touristen den Markusplatz überfluten wie die Brandung den Strand und anschließend durch die engen Gassen, in denen sich Laden an Laden reihte, der Piazale Roma entgegenströmen, nachdem sie Film um Film mit Aufnahmen der Markuskirche oder dem Dogenpalast verknipst hatten. Ab Mai gehörte Venedig der Welt.
Noch schien die Stadt zu schlafen, als die Gruppe Polizisten in blauen Uniformen das Hotel an der Spadaria durch den Haupteingang betraten, nachdem ihnen der Nachtportier geöffnet hatte. Ein Mann in Zivil erkundigte sich nach den Zimmernummern zweier kanadischer Gäste, die vor drei Tagen im Hotel abgestiegen waren. Der Portier schickte die Polizisten in den dritten Stock.
Brian Saint-Claire lag nackt in seinem Bett und schlief. Das Bettlaken war zerwühlt, und nur ein einfaches Leinentuch bedeckte seinen Körper. Seine Atemzüge gingen langsam und gleichmäßig. Das Knacken seiner Zimmertür nahm er nicht wahr. Auch als sich die Polizisten leise in das Zimmer schlichen, schlief er friedlich weiter. Erst als sich die Hand des Zivilbeamten auf seine Schulter legte und ihn heftig schüttelte, kam er zu sich. Benommen schlug er die Augen auf. Als er die Uniformierten erblickte, fuhr er hoch.
»Brian Saint-Claire«, ertönte eine Stimme in Englisch mit italienischem Akzent. »Sie sind verhaftet.«
Brian dachte, er träume. Er kniff die Augen zusammen, doch die Gestalten, die sein Zimmer bevölkerten, wollten dennoch nicht wieder verschwinden.
»Ziehen Sie sich an und folgen Sie uns auf das Revier!«, befahl die Stimme.
»Weswegen … was ist passiert?«, stotterte Brian.
»Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
Pazifikküste vor Kalifornien
Die SSN- 28 Clayton pflügte durch den unruhigen Pazifik. Den ganzen Tag über hatte sie auf der Suche nach weiteren Überlebenden vor der Kokosinsel gekreuzt, doch die Mannschaft hatte keine weiteren Schiffbrüchigen ausmachen können. Von der Portland fehlte jede Spur. Mittlerweile waren Suchflugzeuge der Navy und der Küstenwache aufgestiegen. Die Clayton steuerte mit dem bislang einzigen Überlebenden der Katastrophe den Hafen von Los Angeles an.
Der Hurrikan Dave war inzwischen weitergezogen. Etwa auf Höhe von Costa Rica bog er nach Nordwesten ab und wanderte entlang einer Tiefdruckfront weiter auf den offenen Pazifik hinaus. Die Menschen in Mexiko und an der Südostküste der Vereinigten Staaten konnten aufatmen. Auf der Westseite Mittelamerikas hatte sich sein Zwillingsbruder Cäsar unterdessen zu einem Sturm der Kategorie 4 entwickelt. Entlang der Yucatan-Straße
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