Die dritte Ebene
Schweißgebadet war sie aufgewacht und hatte über eine Stunde schlaflos im Bett gelegen. Es war kurz vor Mitternacht gewesen, und sie hatte sich gefragt, warum dieser alte Traum ausgerechnet jetzt zurückgekehrt war. Nun wusste sie, warum. Es musste wohl eine Vorahnung gewesen sein. Sie wusste genau, was dieser Traum bedeutete und was ihr Sigmund Freud geraten hätte, um ihr Leben in den Griff zu kriegen. Schließlich waren die Träume zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Lebens geworden. Tagtäglich beschäftigte sie sich in ihrem Labor mit Träumen – nicht mit ihren eigenen, sondern mit den Träumen anderer Menschen.
»Ich freue mich, dich wiederzusehen«, riss eine sanfte Stimme sie aus den Gedanken. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in das Gesicht von Brian Saint-Claire. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sollte sie lächeln oder weinen oder einfach nur das Weite suchen? Sie riss sich zusammen und versuchte eine gleichgültige Miene, die ihr jedoch gründlich misslang.
»Soll ich dich lieber allein lassen?«, fragte Brian.
Suzannah schüttelte den Kopf.
»Es ist lange her …«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.
»Fünf Jahre«, sagte Brian und stellte sich neben sie an die Brüstung.
Fünf Jahre und drei Monate, dachte Suzannah bei sich, doch sie schwieg. Sie war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite hasste sie den Mann, der vor ihr stand, auf der anderen Seite liebte sie ihn noch immer. Es fiel ihr schwer, Gleichgültigkeit zu mimen.
Brian zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. »Du hast dich überhaupt nicht verändert. Die Jahre sind spurlos an dir vorbeigegangen. Ich habe gehört, du stehst kurz vor deiner Professur.«
»Und du, noch immer auf der Jagd nach dem Übersinnlichen?«, erwiderte sie und dachte, wie gut es doch war, dass man die Wunden der Seele nicht offen und für jedermann sichtbar vor sich hertragen musste.
Brian nickte lächelnd. »Den Job als Journalist habe ich gerade hingeschmissen.«
Suzannah schaute Brian fragend an. »Mal wieder was anderes tun, so wie früher? Bloß nicht zu lange am selben Ort, bevor man Wurzeln schlägt?«
Brian nahm die negativen Schwingungen in Suzannahs Worten wahr. Eine deutliche Anspielung auf ihre misslungene Beziehung. Er sog an der Zigarette. »Früher …«, wiederholte er nachdenklich, und diesmal war es seine Stimme, die brüchig klang.
Schritte erklangen. Brian wandte sich um. Wayne Chang war zu ihnen auf den Balkon getreten. Ein Handy lag in seiner Hand.
»Ich störe doch hoffentlich nicht?«, fragte er entschuldigend. »Ich muss dringend mit meiner Dienststelle sprechen.«
Brian schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Suzannah zu. »Ich denke, wir sollten wieder reingehen. Die Pause ist vorbei. Später beim Mittagessen würde ich mich freuen, wenn du mir Gesellschaft leistest. Wir könnten dann über alles reden.«
»Reden? Worüber?«
Diesmal lag ein scharfer Ton in Suzannahs Stimme.
Brians Brust zog sich zusammen. »Über den Fall natürlich«, antwortete er betreten, bevor er sich umwandte und wieder hineinging. Suzannah blieb noch eine Weile auf dem Balkon. Sie wollte, dass niemand ihre Tränen sah, vor allem Brian Saint-Claire nicht.
Nachdem sich alle Wissenschaftler wieder im Konferenzraum eingefunden hatten, übergab Professor Paul das Wort an den medizinischen Leiter des Hospitals, Dr. Eugene Brown. Brown machte nicht viele Worte, sondern erklärte kurz den Zustand der beiden Astronauten, die in dem kleinen Krankenhaus untergebracht waren. Dann forderte er die Wissenschaftler auf, ihm zu folgen.
Das Hospital lag direkt neben dem Verwaltungsgebäude, und es dauerte knapp zehn Minuten, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hatte. Hinter dicken Glasscheiben lag ein Mann regungslos auf einem Bett. Körper und Arme waren mit ledernen Riemen umschlungen. Der Kopf des Patienten war durch eine Kopfhaube gesichert. Neben dem Fenster lag die Patientenkarte. Helmut Ziegler, ASA, stand in großen roten Lettern auf dem Deckblatt.
»Akute oder latente Eigengefährdung«, folgerte Brandon. »Hat er schon einen Selbstmordversuch unternommen?«
Dr. Brown schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er dazu fähig wäre. Ich glaube sogar, dass er derzeit überhaupt nicht zu einer koordinierten und selbstbestimmten Handlung fähig ist. Seit gestern haben wir sämtliche Medikamente abgesetzt, damit Sie seine unbeeinflussten Reaktionen selbst beurteilen können. Sehen Sie
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