Die dritte industrielle Revolution - die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter
zentralisierten Machtfluss von oben nach unten gewohnt waren, verkündete er, der Energiemarkt ändere sich und damit auch EnBW. Claassen versprach, dass EnBW beim Weg in die neue Ära dezentraler Energie ganz vorne mit dabei sein würde. Zwar hätten die alten Energien und Geschäftsmodelle nicht ausgedient, das Unternehmen |74| müsse aber Platz machen für die neuen Energien und die neuen Geschäftsmodelle, die sie mitbringen würden.
Anfang 2008 taten Energieversorgungsunternehmen in ganz Europa die ersten kleinen Schritte in die neue Energie-Ära, darunter die irische NTR und Scottish Power. Selbst bei unerschütterlichen Bollwerken der alten Garde wie E.ON kamen Zweifel an ihrer Zukunft auf.
Die E.ON Energie AG hatte mich im März 2008 zu einer zweistündigen Debatte mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Johannes Teyssen nach Rotterdam eingeladen. Als ich mich mit ihm traf, erschien er mir mit seinem schwarzen Dreiteiler und dem verkniffenen Gesichtsausdruck wie der Inbegriff des traditionellen deutschen Industriekapitäns. Aber dann erwies er sich als ausgesprochen freundlich und einnehmend. Teyssen argumentierte, dass wir jede nur erdenkbar Energiequelle bräuchten, um den Energiebedarf Europas in den kommenden Jahrzehnten zu decken, darunter fossile und Atomenergie und sogar erneuerbare Energien. Zum Thema dezentraler Strom schwieg er sich allerdings aus.
Die ganze Diskussion hindurch fiel mir ein Brite auf, den ich auf Mitte vierzig schätzte und der Teyssen mehrmals ins Ohr flüsterte, während ich sprach. Nach der Diskussion trat er auf mich zu und stellte sich vor. Es heiße Kenton Bradbury und sei bei E.ON Senior Vice President mit Verantwortungsbereich Infrastrukturmanagement und Zukunftsstrategien. Er sagte, das Unternehmen beginne sich mit dem Themenbereich intelligente Netze, Mikroproduktion und dezentralem Strom zu befassen. Er sei brennend daran interessiert, mehr zu erfahren, insbesondere über die einsetzende Zusammenarbeit einiger Versorgungsunternehmen mit Baufirmen bei der Entwicklung intelligenter Gebäude, die als Mikrokraftwerke Elektrizität ins Netz einspeisen könnten. In den folgenden Monaten blieben wir per E-Mail und Telefon miteinander in Kontakt.
Im Herbst 2008 erfuhr ich dann, dass E.ON in Klausur gegangen war und mithilfe von IBMs Disruptive-Change-Modell als Fallstudie verschiedene Szenarien durchgespielt hatte, wie sich Aufgaben und Strategie des Unternehmens in Richtung des Paradigmas der Dritten Industriellen Revolution verschieben ließen. Die IBM-Fallstudie – |75| mittlerweile so berühmt, dass sie in MBA-Programmen zum Klischee geworden ist – bezieht sich auf die Entscheidung des Unternehmens Mitte der 1990er Jahre, seinen Fokus vom Verkauf von Computern – seinem Kerngeschäft – auf den Verkauf von Dienstleistungen umzustellen. Man war damals bei IBM zu der Erkenntnis gelangt, dass der Verkauf von Computern allein keine Zuwachsraten versprach. Wo Dutzende von Unternehmen diese »Kisten« verkauften und die asiatische Konkurrenz sie bei gleicher Qualität viel billiger zu produzieren vermochte, sah IBM sich mit schwindenden Margen konfrontiert, falls man weiterhin bloß die Hardware anbieten würde.
Louis Gerstner, damals der CEO von IBM, begann sich nach einem neuen Geschäftsmodell umzusehen. Als Erstes fragte er sich: »Worin besteht IBMs Kernkompetenz?« Die Antwort darauf: im Informationsflussmanagement. Mit diesem neuen Selbstbild nahm ein Technologiegigant des 20. Jahrhunderts Kurs auf neue Gewässer. Man verkaufte fortan Beratungskompetenz an Unternehmen, denen es um eine bessere Verwaltung ihrer Informationen ging. Es dauerte nicht lange, und Unternehmen rund um die Welt erweiterten ihre Chefetage um einen IT-Vorstand, einen Chief Information Officer.
Was Strom- und Versorgungsunternehmen anbelangt, so besteht deren Kernkompetenz im »Management von Energie«. Was ihre Kundschaft von ihnen jedoch wirklich will, das ist eine Beratung über die Implementierung von effizienteren, sparsameren Energiesystemen. In einer Welt mit hohem Konkurrenzdruck stellen heute in einigen Branchen die Energiekosten die Kosten für die Arbeitskraft in den Schatten; es gilt also, Energie zu sparen. Dies ist einer der wenigen Bereiche, in denen ein erheblicher Zuwachs das Schrumpfen der Margen, ja sogar den Kollaps verhindern kann.
Wie sollen nun E.ON und andere Energieversorgungsunternehmen vom Versuch, immer mehr Elektronen an den Mann zu bringen, auf ein Geschäftsmodell
Weitere Kostenlose Bücher