Die dritte industrielle Revolution - die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter
Geschäftsmöglichkeiten werden am Ende das konventionelle Geschäft – den bloßen Verkauf von Elektronen – überrunden.
Die Vision der jungen Garde bekam Schützenhilfe aus einer ganz unvermuteten Ecke: Neelie Kroes, seit 2004 EU-Wettbewerbskom missarin |72| (was sie bis zum Februar 2010 blieb), nahm Anfang 2006 den Strom- und Versorgungssektor ins Visier. Die Liberalisierung des Strommarktes hatte es einer Handvoll nationaler Strom- und Versorgungsriesen ermöglicht, ihre Leitungen über die Grenzen hinweg zu spannen und kleinere Akteure aufzukaufen. Die Europäische Kommission war zunehmend beunruhigt von der Möglichkeit, einige Megaversorger könnten Erzeugung und Verteilung von Strom monopolisieren und damit die Kontrolle über den Marktzugang an sich reißen. Kroes erklärte den Strom- und Versorgungsunternehmen den Krieg. Ab sofort hätten diese Konzerne Erzeugung und Netz zu entflechten. Mit anderen Worten: Sie dürften nicht länger Besitzer sowohl der Kraftwerke als auch der Leitungen zur Verteilung des dort erzeugten Stroms sein. Kroes machte die Absichten der Europäischen Kommission unmissverständlich klar:
»Ein Problem, das wirklich Anlass zur Sorge gibt, ist in der Tat eine Marktstruktur mit einer Bündelung von Infrastruktur und Versorgung. Diese Sorge trifft alle vernetzten Industrien, bei denen eine Verdoppelung der zugrundeliegenden Infrastruktur sehr kostspielig wäre. Besitzer und Betreiber der entscheidenden Netze stehen oft in Wettbewerb mit Unternehmen, die auf den Zugang zu eben diesen Netzen angewiesen sind. Können wir wirklich erwarten, dass diese integrierten Unternehmen mit ihren Konkurrenten ganz und gar fair umgehen? Angesichts ihres Eigeninteresses würde ich das eher verneinen … Untersuchungen in diesem Sektor haben gezeigt, dass es Neuzugängen oft an einem effektiven Zugang zu Netzen mangelt, deren Betreiber angeblich ihre Tochtergesellschaften bevorzugen …
Ich würde einen Schritt in Richtung einer totalen Entflechtung begrüßen (das heißt, eine Trennung der Geschäftszweige Erzeugung und Endhandel von monopolistischen Infrastrukturen) … Erklärtes Ziel des Liberalisierungsprozesses ist es, sicherzustellen, dass neue Unternehmen Zugang zum Markt haben und dort gedeihen können, um den Wettbewerb zu erhöhen und dem Verbraucher eine größere Auswahl zu bieten, ich nenne hier nur den grünen Strom.« 89
Der Schritt der Wettbewerbskommissarin erfolgte bei weitem nicht in einem Vakuum. Er war Teil einer größeren konzertierten Aktion, den |73| neuen dezentralen grünen Energien der Dritten Industriellen Revolution die Tür zu öffnen. In ganz Europa mehrten sich Berichte, dass die großen Strom- und Versorgungsunternehmen lokalen Produzenten erneuerbarer Energien den Verkauf ihres Stroms ins Netz erschwerten. Diese Obstruktionspolitik stand in krassem Widerspruch zu den EU-Direktiven zur Unterstützung einer zunehmenden Erzeugung von Elektrizität aus lokalen erneuerbaren Energieträgern.
Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs beeilten sich, ihren Unmut über Kroes kundzutun. Beide Länder sind Heimat einiger der Giganten im europäischen Strom- und Versorgungsgeschäft – E.ON und RWE in Deutschland, EDF in Frankreich. Was Medien und Öffentlichkeit nicht erfuhren, war, dass hinter den Kulissen im nächsten Augenblick der Teufel los war, wenigstens in den Chefetagen einiger der großen Akteure der Branche.
Im März 2006, etwa um die Zeit, als Kroes sich für eine »Entflechtung« stark machte, lud mich Utz Claassen, damals der toughe Vorstandsvorsitzende von EnBW, einem der größten Energieunternehmen Deutschlands, nach Berlin ein; ich sollte vor Unternehmensangehörigen und Kunden über Klimaveränderung, Energie, Sicherheit und die Umgestaltung des Versorgungssektors referieren. Obwohl damals 45 Prozent von EnBW dem französischen Marktführer EDF gehörten, der 78 Prozent des französischen Stroms aus Kernenergie produziert, 90 stieß ich bei Claassen mit meinem Plädoyer für die dezentrale Erzeugung erneuerbarer Energien auf offene Ohren. Drei Monate später lud er mich abermals ein, diesmal nach Heilbronn, um vor seiner ganzen Belegschaft zu referieren. Etwa 500 Angestellte füllten den Saal. Nachdem ich mein Konzept der Dritten Industriellen Revolution dargelegt hatte, trat Claassen auf das Podium. Zur Überraschung vieler seiner Angestellter, die mit konventionellen fossilen Energieträgern und Atomstrom »groß geworden« und den
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