Die dritte Jungfrau
Wand gedrückt stehenbleiben und Retancourt aufgeben, nur weil sie sich fürchteten, ihrem Körper zu begegnen. Vor der Eisentür, die die Katze bewachte, stoppte er. Das Tier schnüffelte mit der Nase über den Boden, es schien unempfindlich gegenüber dem kotigen Geruch, der davon ausging. Adamsberg holte tief Luft, griff nach dem Haken, mit dem die Tür an der Wand zugehalten wurde, und zog ihn weg. Den Nacken in einer unnatürlichen Geste gekrümmt, zwang er sich zu sehen, was er sehen mußte: Retancourts lebloser Körper lag, gegen alte Werkzeuge und Metallkanister gelehnt, am Boden eines finsteren kleinen Raums. Regungslos blieb er stehen und betrachtete sie und hielt seine Tränen nicht mehr zurück. Zum erstenmal, so schien ihm, weinte er um einen anderen Menschen als um seinen Bruder Raphaël oder um Camille. Retancourt, sein Baum, lag vernichtet am Boden. Kurz nur hatte er sie angeleuchtet und dabei ihr staubverdrecktes Gesicht bemerkt, ihre schon blauen Fingernägel, den offenen Mund und ihre blonden Haare, über die eine Spinne lief.
Er wich zu der Wand aus schwarzem Ziegelstein zurück, während die Katze ohne jede Scham den Verschlag betrat, mit einem Satz auf Retancourts Körper sprang und sich genüßlich auf ihrer schmutzigen Kleidung ausstreckte. Der Geruch, dachte Adamsberg. Er nahm nur den Gestank des Diesels wahr, Motoröl, Urin und Kot. Nur maschinelle und tierische Ausdünstungen, aber kein Verwesungsgeruch. Er machte zwei Schritte, um sich dem leblosen Körper aufs neue zu nähern, und kniete sich in den schmierigen Zement. Als er seine Taschenlampe mit einem Ruck auf Retancourts staubiges Statuengesicht richtete, sah er nur die Unbewegtheit des Todes, die starren, geöffneten Lippen, die auf die Beine der kleinen Spinne nicht reagierten. Langsam streckte er seine Hand aus und legte sie ihr auf die Stirn.
»Doktor«, sagte er und winkte ihn heran.
»Er ruft Sie«, sagte Mordent, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Lavoisier, wie Lavoisier, ganz einfach.«
»Er ruft Sie«, wiederholte Justin.
Noch immer auf Knien, kroch Adamsberg ein Stück zurück, um dem Arzt Platz zu machen.
»Sie ist tot«, sagte er. »Und zugleich ist sie nicht tot.«
»Entweder das eine oder das andere, Kommissar«, sagte Lavoisier und öffnete sein Köfferchen. »Ich kann nichts sehen.«
»Licht her!« rief Adamsberg.
Nach und nach kam die Gruppe näher, allen voran Mordent und Danglard mit ihren Lampen.
»Noch warm«, sagte der Arzt, nachdem er sie kurz abgetastet hatte. »Sie ist vor einer knappen Stunde gestorben. Ich kann ihren Puls nicht finden.«
»Sie lebt«, behauptete Adamsberg.
»Einen Augenblick, mein Lieber, regen Sie sich nicht auf«, sagte der Arzt und holte einen Spiegel heraus, den er Retancourt vor den Mund hielt.
»Verstanden«, fügte er nach langen Sekunden hinzu. »Bringen Sie die Trage, sie lebt. Ich weiß nicht, wie, aber sie lebt. Präfinaler Zustand, Untertemperatur, so was habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.«
»Was haben Sie verstanden?« fragte Adamsberg. »Was hat sie?«
»Der Stoffwechsel funktioniert auf einem Minimum«, sagte der Arzt, während er mit seiner Untersuchung fortfuhr. »Füße und Hände sind eisig, die Durchblutung läuft in verlangsamtem Tempo, der Darm ist leer, die Augen sind verdreht.«
Der Arzt krempelte die Ärmel ihres Pullovers hoch und untersuchte die Arme.
»Selbst die peripheren Abschnitte der Gliedmaßen sind bereits kalt.«
»Koma?«
»In gewissem Sinne, ja, aber die Vitalfunktionen sind noch erhalten. Sie kann von einem Augenblick auf den anderen sterben, bei all dem Zeug, das man ihr gespritzt hat.«
»Was?« fragte Adamsberg, dessen Hände sich um Retancourts dicken Arm gekrallt hatten.
»Soweit ich das überblicke, eine Dosis Beruhigungsmittel, mit der man zehn Pferde hätte umbringen können.«
»Die Spritze«, stieß Voisenet zwischen den Zähnen hervor.
»Vorher ist sie brutal niedergeschlagen worden«, sagte der Arzt und suchte ihr Haar ab. »Mögliches Schädeltrauma. Sie wurde gefesselt, an Knöcheln und Handgelenken, der Strick ist in die Haut gedrungen. Ich glaube, man hat ihr erst hier das Gift verabreicht. Eigentlich hätte sie auf der Stelle sterben müssen. Aber nach dem Wasserverlust und den Ausscheidungen zu urteilen, leistet sie seit sechs oder sieben Tagen Widerstand. Das ist nicht normal, ich gebe zu, das übersteigt meinen Horizont.«
»Sie ist nicht normal, Doktor.«
»Lavoisier, wie Lavoisier«, sagte
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