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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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aufgebahrt.
    Doch überlaßt Euch nicht der Hoffnungslosigkeit.
    Die Götter sind, Seigneur, zur Gnade stets bereit,
    nicht Rache, Nachsicht wird demjenigen zuteil,
    der ihre Irrfahrt stoppt und sie zurückbringt, heil.
     
    »Wir schlafen noch nicht? Wir sind aber sehr unvernünftig«, sagte die Krankenschwester und führte ihn am Arm weg.

50
    Die Hände auf die Laken gestützt, stand Adamsberg am Bett von Retancourt, die er noch immer nicht atmen sah. Die Ärzte hatten injiziert, gereinigt, ausgepumpt, doch er konnte keinerlei Änderung an seinem Lieutenant feststellen. Abgesehen von der Tatsache, daß die Krankenschwestern sie von oben bis unten gewaschen und ihre von Flöhen wimmelnden Haare geschnitten und behandelt hatten. Die Hunde, klar. Über dem Bett sandte ein Bildschirm schwache Lebenszeichen aus, doch Adamsberg sah lieber nicht hin, für den Fall, daß die grüne Linie plötzlich flach würde.
    Der Arzt faßte Adamsberg beim Arm und zog ihn vom Bett weg.
    »Gehen Sie zu den anderen, stärken Sie sich, denken Sie an was anderes. Hier können Sie doch nichts weiter tun, Kommissar. Sie muß sich jetzt ausruhen.«
    »Sie ist nicht dabei, sich auszuruhen, Doktor. Sie ist dabei zu sterben.«
    Der Arzt blickte zur Seite.
    »Es steht nicht sonderlich gut um sie«, gab er zu. »Das Beruhigungsmittel, eine hohe Dosis Novaxon, das man ihr gespritzt hat, hat den gesamten Organismus lahmgelegt. Das Nervensystem liegt flach, nur das Herz hält, auf welche Weise auch immer, durch. Ich begreife nicht einmal, daß sie noch da ist. Selbst wenn wir sie retten, Kommissar, bin ich nicht sicher, ob sie ihre geistigen Fähigkeiten wiedererlangen wird. Das Blut, sagen wir, durchrieselt das Gehirn minimal. Das ist Schicksal, versuchen Sie’s zu verstehen.«
    »Vor acht Tagen«, sagte Adamsberg, der seine Zähne nur mit Mühe auseinanderbekam, »habe ich einen Typen gerettet, dessen Schicksal es war, zu sterben. Es gibt kein Schicksal. Sie hat’s bis jetzt überstanden, sie wird auch noch weiter durchhalten. Sie werden sehen, Doktor, dieser Fall wird in Ihre Annalen eingehen.«
    »Gehen Sie zu den anderen. Sie kann noch Tage in diesem Zustand bleiben. Ich rufe an, sobald es etwas Neues gibt.«
    »Kann man nicht alles herausnehmen, säubern und wiedereinsetzen?«
    »Nein, das kann man nicht.«
    »Verzeihung, Doktor«, sagte Adamsberg und ließ seinen Arm los.
    Adamsberg ging ans Bett zurück und fuhr seinem Lieutenant durchs frisch geschnittene Haar.
    »Ich komme wieder, Violette«, sagte er.
    Genau das sagte Retancourt immer zur Katze, wenn sie wegging, damit sie sich keine Sorgen machte.
     
    Die explosive, banale Fröhlichkeit, die im Restaurant herrschte, erinnerte eher an eine Geburtstagsfeier als an ein Arbeitsessen unter Leuten, denen die Angst im Nacken saß. Adamsberg sah von der Tür aus eine Weile zu ihnen hinüber, durch den Kerzenschein hindurch, der sie auf eine trügerische Weise allesamt schön aussehen ließ, wie ihre Ellbogen da auf den weißen Tischdecken lagen, die Gläser von Hand zu Hand gingen, ordinäre Scherze die Runde machten. Sehr gut, um so besser, genau das hatte er erwartet, diese Zäsur außerhalb der Zeit, von der sie ausgiebig Gebrauch machten, wußten sie doch, daß sie kurz sein würde. Er fürchtete, seine Ankunft könnte diese zerbrechliche Freude zum Schweigen bringen, hinter der sich wie hinter einer Fensterscheibe die Sorge abzeichnete. So zwang er sich zu einem Lächeln, als er an ihren Tisch trat.
    »Es geht ihr besser«, sagte er und setzte sich. »Geben Sie mir einen Teller.«
    Selbst ihm, der in Gedanken noch immer mit Retancourts Körper verbunden war, taten das Essen, der Wein und ihr Gelächter gut. Adamsberg hatte es nie verstanden, sich bei gemeinschaftlichen Mahlzeiten angemessen zu verhalten, schon gar nicht bei einem Festmahl, schlagfertige Antworten und schnelle Witze waren seine Sache nicht. Wie ein Steinbock, der einen Hochgeschwindigkeitszug im Tal vorbeifahren sieht, saß er als unbeteiligter, wohlwollender Zuhörer dabei und genoß die Lebhaftigkeit seiner Mitarbeiter. Merkwürdigerweise gab Froissy in solchen Augenblicken ihr Bestes, beflügelt von dem köstlichen Essen und einem unbändigen Humor, den man auf der Arbeit an ihr nicht vermutet hätte. Adamsberg ließ sich bereitwillig davon tragen, behielt aber das Display seines Mobiltelefons ständig im Auge. Das um dreiundzwanzig Uhr vierzig klingelte.
    »Sie wird schwächer«, teilte ihm Dr. Lavoisier mit. »Wir

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