Die dritte Jungfrau
als Kind gehabt hatte, eine kleine Tänzerin, die sich drehen ließ, indem man einen Spiegel an sie heranführte. Erst später hatte er begriffen, daß im Sockel der Tänzerin mit den rosa Strümpfen wie auch in dem Spiegel einander abstoßende Magnete verborgen waren. Ariane war also die Tänzerin, und er war der Spiegel. Eine reflektierende Oberfläche, die sie instinktiv mied, um in Adamsbergs Augen nicht Omega sehen zu müssen. Folglich war er gezwungen, immerfort im Raum herumzuwandern, während Ariane, die sich dieser Bewegung nicht bewußt war, ins Leere hinein redete.
Es war eindeutig, daß sie nicht im geringsten begriff, was ihr vorgeworfen wurde. Doch sie fragte auch nicht, noch empörte sie sich. Sie fügte sich, ja, fast schien sie einverstanden, als wüßte ein anderer Teil von ihr sehr wohl, was sie hier tat, und akzeptierte es vorübergehend, als einen bloßen Zufall des Schicksals, über das sie herrschte. Adamsberg, der noch rasch ein paar Kapitel ihres Buches überflogen hatte, erkannte in diesem passiven Konfliktverhalten die verwirrenden Symptome der Dissoziierten. Jenen Bruch im Wesen, den Ariane tief innerlich so gut kannte, daß sie ihn über Jahre hinweg leidenschaftlich untersucht hatte, ohne zu begreifen, daß es ihr eigener Fall war, der ihren Forscherdrang beseelte. Gegenüber einem Bullen, der ein Verhör führte, verstand Alpha nichts, und Omega schwieg, versteckte sich und suchte vorsichtig die Versöhnung und den Ausweg.
Adamsberg nahm an, daß Ariane, die in ihrem unermeßlichen Stolz schon die Kränkung mit den zwölf Ratten nicht hatte verzeihen können, die beleidigende Tatsache, daß eine Sanitäterin ihr vor aller Augen den Mann wegnahm, nicht ertragen hatte. Das oder irgend etwas anderes. Eines Tages war der Vulkan ausgebrochen und hatte Wut und Rachegedanken in einer Reihe gewaltiger Eruptionen herausgeschleudert. Von deren tödlichen Folgen die Gerichtsmedizinerin Ariane nichts wußte. Die Sanitäterin war ein Jahr später bei einem Unfall in den Bergen ums Leben gekommen, doch der Gatte war nicht zu ihr zurückgekehrt. Er hatte sich eine neue Gefährtin gesucht, die ihrerseits auf einem Bahngleis starb. Mit jedem neuen Mord kam Ariane ihrem endgültigen Ziel näher, der Eroberung einer Macht, die der sämtlicher anderen Frauen überlegen wäre. Einer ewigen Herrschaft, durch die es ihr erspart bliebe, ständig von ihresgleichen umzingelt zu sein. Beseelt wurde dieser Wettlauf von dem unversöhnlichen Haß auf die anderen, den keiner je verstehen würde, es sei denn, Omega selbst spräche eines Tages darüber.
Allerdings hatte Ariane ihre Ungeduld zehn Jahre lang zügeln müssen, denn das Rezept aus dem De sanctis reliquis war eindeutig: Fünfmal verstreicht die Zeit der Jugend, da du sie umkehren mußt, sie ihrem Lauf entreißt und den gegangenen Weg zurückgehst.
Und genau an diesem ersten Punkt war Adamsberg und seinen Mitarbeitern ein schwerer Rechenfehler unterlaufen, hatten sie doch das Alter von fünfzehn Jahren mit fünf multipliziert. Durch ihre ausschließliche Fixierung auf die Krankenschwester hatten sie den Text allesamt so interpretiert, daß er den fünfundsiebzig Jahren des Todesengels entsprach. Doch zu der Zeit, da das De reliquis geschrieben wurde, war fünfzehn das Alter von Erwachsenen, ein Alter, in dem die Mädchen bereits Mutter waren und die Jungen im Sattel saßen. Schon mit zwölf Jahren ließen die jungen Leute die Zeit der Jugend hinter sich. Folglich kam mit Sechzig der Augenblick, da man das Voranschreiten des Todes aufhalten und seiner Sense aus dem Wege gehen mußte. Ariane stand kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag, als sie die Serie ihrer von langer Hand geplanten Verbrechen eröffnete.
Adamsberg drückte die Starttaste des Aufnahmegeräts: Verhör von Ariane Lagarde am sechsten Mai um ein Uhr zwanzig morgens, in Polizeigewahrsam wegen vorsätzlicher Tötung und versuchter Tötung, in Anwesenheit der Beamten Danglard, Mordent, Veyrenc, Estalère sowie von Dr. Romain.
»Was geht hier vor, Jean-Baptiste?« fragte Ariane, den Blick freundlich zur Wand gerichtet.
»Ich lese dir eine erste Fassung der Anklageschrift vor«, erklärte Adamsberg sanft.
Sie wußte alles und wußte doch nichts, und ihrem Blick, wenn er ihm kurz begegnete, war schwer standzuhalten, es war ein liebenswürdiger und hochmütiger Blick, verständnisvoll und gehässig, in dem Alpha und Omega miteinander rangen. Ein Blick ohne Bewußtsein, der ihre Befrager
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