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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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daß Ariane es nicht für richtig erachtet hatte, uns etwas davon zu sagen. Und warum? Als sie von dir wegging, ist sie zu ihr ins Leichenschauhaus gegangen. Sie hat sie danach gefragt, und Ariane hat die Gefahr gewittert. In einem Wagen des Leichenschauhauses hat sie sie dann zu der Lagerhalle transportiert.«
    »Gib mir noch ein bißchen Wasser drüber.«
    Adamsberg wrang das Geschirrtuch unter kaltem Wasser aus und rieb Romains Kopf heftig ab.
    »Aber etwas haut nicht hin«, sagte Romain, den Kopf noch unter dem Tuch.
    »Was?« sagte Adamsberg und hörte auf zu rubbeln.
    »Als ich meine Zustände zum erstenmal bekam, hatte Ariane den Posten in Paris noch gar nicht angenommen. Sie war noch in Lille. Was sagst du dazu?«
    »Daß sie nach Paris gekommen ist, bei dir eingedrungen ist und sämtliche Vorräte von deinem Zeug ausgetauscht hat.«
    »Dem Gavelon.«
    »Ja, sie hat in deine Kapseln eine Mischung ihrer Wahl hineingetan, oder etwas Selbstgemixtes. Ariane hat Mischungen und Mixturen schon immer geliebt, wußtest du das? Dann brauchte sie in Lille nur noch abzuwarten, daß du nicht mehr in der Lage sein würdest zu arbeiten.«
    »Hat sie dir das erzählt? Daß sie mich in diesen Umnebelungszustand getrieben hat?«
    »Sie hat noch kein Wort gesprochen.«
    »Und wie kannst du dir dann so sicher sein?«
    »Weil dies das erste war, das Retancourt versuchte mir zu sagen: Oh, daß des letzten Römers letzten Seufzer / Ich hören könnte und vor Wonne dann / Noch sterbend hauchen: Das hab’ ich getan! Nicht wegen Camille oder Corneille hat sie diese Verse gewählt, sondern deinetwegen. Retancourt dachte an dich, an deine Seufzer und deine Zustände. Der Römer, das bist du {7} , ausgelaugt von einer Frau.«
    »Und warum hat Retancourt in Versen gesprochen?«
    »Wegen des Neuen, ihres Teamkollegen Veyrenc. Er färbt ab, vor allem auf sie. Und weil sie in einem Nebel von Beruhigungsmitteln schwebte, der sie in ihre Schulzeit zurückversetzte. Lavoisier hat erzählt, einer seiner Patienten sei drei Monate lang sein Einmaleins durchgegangen.«
    »Ich verstehe nicht den Zusammenhang. Lavoisier war Chemiker, er ist 1793 unter der Guillotine gestorben. Rubbel weiter.«
    »Ich spreche von dem Arzt, der uns nach Dourdan begleitet hat«, sagte Adamsberg und rubbelte Romains Kopf aufs neue ab.
    »Er heißt Lavoisier? Wie Lavoisier?« fragte Romain mit dumpfer Stimme unter dem Geschirrtuch.
    »Ja. Als wir endlich begriffen hatten, daß Retancourt uns mit aller Macht etwas über dich erzählen wollte, daß sie uns sagen wollte, daß eine Frau die Ursache für deine Seufzer wäre, kam der Rest von allein. Ariane hatte dich ausgeschaltet, um deinen Platz einzunehmen. Weder ich noch Brézillon hatten darum gebeten, daß sie dich ersetzt. Sie hatte sich von selbst beworben. Warum? Des Ruhmes wegen? Den hatte sie schon.«
    »Um die Ermittlung selbst zu leiten«, sagte Romain und kam mit hochstehenden Haaren unter dem Tuch hervor.
    »Und um gleichzeitig mich zu Fall zu bringen. Ich habe sie mal gedemütigt, vor sehr langer Zeit. Sie vergißt nichts, sie verzeiht nichts.«
    »Wirst du das Verhör führen?«
    »Ja.«
    »Nimm mich mit.«
    Seit Monaten hatte Romain nicht die Kraft gehabt, seine Wohnung zu verlassen. Adamsberg bezweifelte, daß er auch nur die drei Etagen bis zum Auto würde hinuntergehen können.
    »Nimm mich mit«, beharrte Romain. »Sie war meine Freundin. Ich will es mit eigenen Augen sehen, sonst glaube ich es nicht.«
    »Einverstanden«, sagte Adamsberg und hievte Romain unter den Armen hoch. »Halt dich an mir fest. Falls du in der Brigade einschläfst, im ersten Stock liegen Schaumstoffblöcke. Mercadet hat sie mitgebracht.«
    »Frißt er etwa auch Kapseln mit Kranichkot, dein Mercadet?«

63
    Ariane verhielt sich auf die ungewöhnlichste Weise, die Adamsberg je bei einem Beschuldigten gesehen hatte. Sie saß ihm ganz normal auf der anderen Seite seines Schreibtisches gegenüber, hatte aber ihren Stuhl mit großer Selbstverständlichkeit um neunzig Grad gedreht, als wolle sie zur Wand sprechen. Also war Adamsberg zur Wand hinübergegangen, um ihr ins Gesicht sehen zu können, doch wieder hatte sie ihren Stuhl um einen rechten Winkel bewegt und blickte nun zur Tür. Das war weder Angst noch böser Wille oder Provokation ihrerseits. Doch sobald der Kommissar sich ihr näherte, schwenkte sie – wie ein Magnet einen anderen abstößt – sogleich in eine andere Richtung. Genau wie jenes Spielzeug, das seine Schwester

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