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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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solltest du nicht glauben.«
    »Gut«, versprach Adamsberg.
    »Und bei denen regnet’s ständig, den Armen.«
    Adamsberg sah auf die Fensterscheiben, an denen unaufhörlich der Regen herunterlief.
    »Regen ist ja nicht gleich Regen«, erklärte Oswald. »Hier regnet’s nicht, es nieselt. Gibt’s bei euch so was nicht? Zugereiste?«
    »Doch«, gab Adamsberg zu. »Es gibt Reibereien zwischen dem Gave-de-Pau-Tal und dem Ossau-Tal.«
    »Ja«, bestätigte Angelbert, als wäre ihm diese Tatsache längst bekannt.
    Obwohl er an die getragene Musik dieser Männerrituale gewöhnt war, begriff Adamsberg, daß das Gespräch der Normannen ihrem Ruf gemäß schwieriger war als anderswo. Sie waren Schweiger. Hier hatten es die Sätze schwer, vorsichtige, argwöhnische Sätze, die mit jedem Wort das Terrain abtasteten. Man sprach nicht laut, man ging die Themen nicht mit voller Wucht an. Man schlich drum herum, als wäre es ebenso taktlos, ein Thema direkt auf den Tisch zu packen wie ein Stück Schlachtfleisch darauf zu werfen.
    »Warum sind die Scheiße?« fragte Adamsberg und deutete auf die Geweihe über der Tür.
    »Weil es abgeworfene Geweihe sind. Die sind als Wandschmuck gut, zum Angeben. Guck sie dir an, wenn du mir nicht glaubst. Man sieht die Wurzel über den Stirnbeinfortsätzen am Ansatz des Knochens.«
    »Das ist Knochen?«
    »Du verstehst wirklich gar nichts davon«, sagte Alphonse traurig, und er schien zu bedauern, daß Angelbert diesen Ignoranten in die Gruppe eingeführt hatte.
    »Ja, das ist Knochen«, bestätigte der Alte. »Das ist der Schädel des Tieres, der nach draußen wächst. Passiert nur bei Hirschen.«
    »Kannst du dir das vorstellen, wenn unsere Schädel nach draußen wachsen würden?« fragte Robert, einen Augenblick lang versonnen.
    »Mit allen Gedanken obendrauf?« sagte Oswald mit feinem Lächeln.
    »Na, bei dir würde’s nicht viel wiegen.«
    »Praktisch für einen Bullen«, bemerkte Adamsberg, »aber riskant. Man könnte alles sehen, was einer denkt.«
    »Genau.«
    Eine Pause trat ein, eine nachdenkliche und zugleich für das dritte Glas bestimmte Pause.
    »Womit kennst du dich denn aus? Außer mit Bullen?« fragte Oswald.
    »Stell keine Fragen«, befahl Robert. »Er kennt sich aus, womit er will. Fragt er dich etwa, womit du dich auskennst?«
    »Mit Frauen«, sagte Oswald.
    »Na, er doch auch. Sonst hätte er seine ja wohl kaum verloren.«
    »Genau.«
    »Sich mit Frauen auskennen und sich in der Liebe auskennen, das hat beides nichts miteinander zu tun. Vor allem mit den Frauen.«
    Angelbert richtete sich wieder auf, als scheuchte er Erinnerungen fort.
    »Erklär du’s ihm«, sagte er, wobei er Hilaire ein Zeichen gab und dann mit dem Finger auf das Foto mit dem aufgeschlitzten Hirsch pochte.
    »Der männliche Hirsch verliert sein Geweih jedes Jahr.«
    »Wozu?«
    »Weil es ihn stört. Er trägt ein Geweih, um zu kämpfen, um die Weibchen zu erobern. Wenn das vorbei ist, fällt es ab.«
    »Schade«, sagte Adamsberg. »Es ist schön.«
    »Wie alles Schöne«, sagte Angelbert, »ist es kompliziert. Versteh doch, es ist schwer, und man bleibt dauernd damit in den Zweigen hängen. Nach der Schlägerei plumpst es von ganz allein runter.«
    »Wie man die Geschütze ruhen läßt, wenn dir das lieber ist. Die Frauen hat er, also legt er die Waffen nieder.«
    »Frauen sind kompliziert«, sagte Robert, der noch immer seinem Gedanken folgte.
    »Aber sie sind schön.«
    »Das hab ich doch gesagt«, flüsterte der Alte. »je schöner, desto komplizierter. Man kann nicht alles verstehen.«
    »Nein«, sagte Adamsberg.
    »Wer weiß.«
    Vier der Männer gossen sich ohne vorherige Absprache gleichzeitig einen hinter.
    »Es fällt runter, und das sind eben abgeworfene Geweihe«, sagte Hilaire. »Man kann sie im Wald wie Pilze sammeln. Während man Jagdgeweihe vom Kopf des Tieres, das man erlegt hat, abschneidet. Kannst du mir folgen? Das ist was Lebendiges.«
    »Und der Mörder schert sich einen Dreck um das lebendige Geweih«, sagte Adamsberg, indem er auf das Bild des aufgeschlitzten Hirsches zurückkam. »Ihn interessiert der Tod. Oder sein Herz.«
    »Genau.«

9
    Adamsberg bemühte sich, den Hirsch aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er wollte nicht mit all dem Blut im Kopf in sein Hotelzimmer gehen. Er wartete vor der Tür, strich seine Gedanken ab, klärte seine Stirn und brachte im Eilmarsch Wolken, Kugeln und blaue Himmel hinein. Im Zimmer nämlich schlief ein neun Monate altes Kind. Und bei Kindern

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