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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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weiß man nie. Sind imstande, eine Stirn zu durchdringen, Gedanken grummeln zu hören, Angstschweiß zu riechen und zuletzt noch einen aufgeschlitzten Hirsch im Kopf eines Vaters zu sehen.
    Geräuschlos drückte er die Tür auf. Er hatte den Kreis der Männer belogen. Begleiten, ja, höflich, ja, aber allein um das Kind zu hüten, während Camille im Schloß Bratsche spielen würde. Ihre letzte Trennung – die fünfte oder siebte, er wußte es nicht genau – hatte eine unvorhersehbare Katastrophe ausgelöst: Camille war hoffnungslos zu einer Kameradin geworden. Zerstreut, lächelnd, herzlich und vertraut, kurzum und in einem tragischen Wort, zu einer Kameradin. Und dieser neue Zustand irritierte Adamsberg, der versuchte, die Finte aufzudecken, das Gefühl hervorzulocken, das sich unter der Maske der Ungezwungenheit regte wie die Krabbe unterm Fels. Doch Camille schien tatsächlich weit entfernt herumzuspazieren, befreit von einstigen Spannungen. Und eine erschöpfte Kameradin zu einem neuerlichen Liebeserwachen überreden zu wollen, so sagte er sich, während er sie mit einem höflichen Kuß begrüßte, grenzte an eine Unmöglichkeit. Also konzentrierte er sich, überrascht und in sein Schicksal ergeben, auf seine neue Vaterfunktion. Er war ein Anfänger auf diesem Gebiet und gab sich größte Mühe, zu realisieren, daß dieses Kind sein Sohn war. Es schien ihm, er hätte genausoviel für ihn getan, wie wenn er den Jungen auf einer Parkbank gefunden hätte.
    »Er schläft noch nicht«, sagte Camille und zog sich ihren schwarzen Konzertblazer über.
    »Ich werde ihm eine Geschichte vorlesen. Ich habe ein Buch mitgebracht.«
    Adamsberg zog einen dicken Band aus seiner Tasche. Die vierte seiner Schwestern schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, seinen Geist bilden und ihm das Leben schwerer machen zu wollen. Sie hatte ein vierhundert Seiten starkes Werk zwischen seine Sachen gesteckt, einen Band über die Architektur in den Pyrenäen, mit der er nichts anzufangen wußte, mit dem Auftrag, es zu lesen und seine Meinung dazu abzugeben. Und Adamsberg gehorchte ausschließlich seinen Schwestern.
    » Bauen im Béarn «, las er vor. » Traditionelle Techniken vom 12. bis zum 19. Jahrhundert «.
    Camille zuckte lächelnd die Schultern, in der munteren Art von Kameradinnen. Solange das Kind nur einschlief – und in dieser Hinsicht vertraute sie ihm voll und ganz –, waren Adamsbergs Seltsamkeiten kaum von Bedeutung. Ihre Gedanken waren vollkommen auf das abendliche Konzert konzentriert, ein Wunder, das ganz gewiß Yolande zu verdanken war, die bei Den Mächtigen Fürbitte eingelegt hatte.
    »Er mag das«, sagte Adamsberg.
    »Ja, wieso nicht?«
    Keine Kritik, keine Ironie. Das weiße Nichts aufrichtiger Kameradschaft.
     
    Als er allein war, betrachtete Adamsberg aufmerksam seinen Sohn, der ihn gesetzt anschaute, sofern man dieses Wort für ein neun Monate altes Baby verwenden konnte. Die Konzentration des Kindes in wer weiß welchem Nirgendwo, seine Gleichgültigkeit kleinen Schwierigkeiten gegenüber, ja seine ruhige Bedürfnislosigkeit machten ihm Sorge, so sehr glich ihm all dies. Ganz zu schweigen von den markanten Augenbrauen, der Nase, der man schon ansah, daß sie kräftig werden würde, einem Gesicht, das in allem so wenig gewöhnlich war, daß man ihn hätte zwei Jahre älter schätzen können. Thomas Adamsberg setzte die väterliche Linie fort, was nicht gerade das war, was Adamsberg sich für ihn erhofft hatte. Doch durch diese Ähnlichkeit begann der Kommissar in kleinen Wellen, in kurzen Sprüngen zu erkennen, daß dieses Kind eindeutig von seinem Körper abstammte.
    Adamsberg schlug das Buch auf der Seite auf, an der das Metro-Ticket steckte. Für gewöhnlich knickte er ein Eselsohr in das betreffende Blatt, aber seine Schwester hatte ihm empfohlen, das Werk zu schonen.
    »Tom, hör mir gut zu, wir werden uns jetzt gemeinsam bilden, und wir haben keine andere Wahl. Erinnerst du dich an das, was ich dir über die nach Norden gelegenen Fassaden vorgelesen habe? Hast du’s auch gut behalten? Hör zu, wie’s weitergeht.«
    Thomas fixierte ruhig seinen Vater, aufmerksam und gleichgültig.
    » Die Verwendung von Flußkieseln beim Bau niedriger Mauern, einer den einheimischen Rohstoffen angepaßten Gestaltungsform, ist eine weitverbreitete, wenn auch nicht durchgängige Praktik. Gefällt dir das, Tom? Die Einführung des opus spicatum in viele dieser Mäuerchen folgt einer zweifachen kompensatorischen

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