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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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der an der Stirnseite des Tisches saß. Die Gesichter wandten sich lebhaft dem Alten zu.
    »Denn aus einem jungen Besessenen wird, wenn er alt wird, ein alter Besessener.«
    »Darüber läßt sich streiten«, brummte Robert.
    Robert kam also die schwierige, aber ebenso unerläßliche Rolle zu, dem Alten stets zu widersprechen.
    »Darüber läßt sich nicht streiten«, entgegnete der Alte.
    »Wahr allerdings ist, daß der, der das getan hat, ein Besessener ist.«
    »Ein Barbar.«
    »Genau.«
    Wiederaufnahme des Themas und Weiterentwicklung.
    »Töten und Töten ist nämlich zweierlei«, mischte sich Roberts Nachbar, weniger blond als die anderen, ein.
    »Darüber läßt sich streiten«, sagte Robert.
    »Darüber läßt sich nicht streiten«, fuhr der Alte dazwischen. »Der Kerl, der das getan hat, wollte töten und sonst nichts. Zwei Schüsse in die Flanke, das war’s. Er hat sich nicht mal am Körper bedient. Weißt du, wie ich so was nenne?«
    »Einen Mörder.«
    »Genau.«
    Adamsberg, aufmerksam geworden, hatte aufgehört zu zeichnen. Der Alte drehte sich zu ihm um und warf ihm einen heimlichen Blick zu.
    »Im Grunde«, sagte Robert, »liegt Brétilly ja nicht wirklich in unserer Gegend, immerhin ist es dreißig Grenzsteine entfernt. Warum reden wir überhaupt davon?«
    »Weil’s eine Schande ist, Robert, darum.«
    »Meiner Ansicht nach war’s keiner aus Brétilly. Das hat einer aus Paris gemacht. Angelbert, bist du nicht auch der Meinung?«
    Der Alte, der über den Stammtisch herrschte, hieß also Angelbert.
    »Zugegeben, die Pariser sind besessener als andere«, sagte er.
    »Bei der ihrem Leben.«
    Am Tisch trat Schweigen ein, und einige Gesichter wandten sich verstohlen zu Adamsberg um. Zu dieser Stunde, da die Männer sich versammeln, geschieht es zwangsläufig, daß ein Eindringling entdeckt wird, gewogen und schließlich abgelehnt oder für gut befunden wird. In der Normandie wie woanders auch, vielleicht schlimmer noch als woanders.
    »Wieso sollte ich Pariser sein?« fragte Adamsberg in ruhigem Ton.
    Der Alte deutete mit dem Kinn auf das Buch, das auf dem Tisch des Kommissars neben seinem Glas Bier lag.
    »Der Fahrschein«, sagte er, »den Sie als Lesezeichen benutzen. Das ist ein Ticket der Pariser Metro. So was erkennen wir schon.«
    »Ich bin kein Pariser.«
    »Aber Sie kommen auch nicht aus Haroncourt.«
    »Aus den Pyrenäen, den Bergen.«
    Robert hob eine Hand und ließ sie schwerfällig wieder auf den Tisch fallen.
    »Ein Gascogner«, schlußfolgerte er, als sei soeben eine Bleiglocke auf dem Tisch aufgeschlagen.
    »Ein Béarner«, präzisierte Adamsberg.
    Beginn der Urteilsfindung und Beratung.
    »Nicht, daß uns die Bergmenschen Ärger gemacht hätten«, meinte Hilaire, ein etwas weniger alter, aber glatzköpfiger Alter, der am anderen Tischende saß.
    »Wann?« fragte der mit den etwas dunkleren Haaren.
    »Gib’s auf, Oswald, das war früher.«
    »Wie auch die Bretonen, die vielleicht schlimmer noch. Immerhin sind es nicht die Béarner, die uns den Mont Saint-Michel wegnehmen wollen.«
    »Nein«, gab Angelbert zu.
    »Fest steht«, wagte sich Robert vor, wobei er ihn musterte, »daß Sie nicht aussehen wie einer, der von den Wikingern abstammt. Woher stammen die Béarner?«
    »Aus dem Gebirge«, antwortete Adamsberg. »Das Gebirge hat sie in einem Lavastrahl ausgespuckt, dann sind sie an seinen Hängen hinuntergeflossen, sind erstarrt, und das ergab dann die Béarner.«
    »Natürlich«, sagte der, dem die Rolle des Unterstreichers zukam.
    Die Männer warteten, schweigend verlangten sie die Gründe für die Anwesenheit eines Fremden in Haroncourt zu erfahren.
    »Ich suche das Schloß.«
    »Das läßt sich machen. Sie geben ein Konzert heute abend.«
    »Ich begleite einen der Musiker.«
    Oswald holte das Gemeindeblatt aus seiner Innentasche und faltete es sorgfältig auseinander.
    »Das ist ein Foto von dem Orchester«, sagte er.
    Einladung, an den Tisch zu kommen. Adamsberg legte die paar Meter mit seinem Glas in der Hand zurück und betrachtete die Seite, die Oswald ihm hinhielt.
    »Hier«, sagte er und legte einen Finger auf die Zeitung, »die Bratschistin.«
    »Das hübsche Mädel?«
    »Ganz recht.«
    Robert schenkte nach, um die Bedeutung der Pause hervorzuheben und zugleich eine zweite Runde zu kippen. Nun quälte ein uraltes Problem die versammelten Männer: Sie mußten herauskriegen, was diese Frau für den Eindringling wohl sein konnte. Geliebte? Ehefrau? Schwester? Freundin?

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