Die dritte Jungfrau
weiter. Sie stellen mir eine Frage, ich antworte.«
»Wozu nützt das, Danglard?«
»Und wir, Kommissar? Wozu sind wir nütze, wir Menschen auf der Erde?«
Wenn es Danglard schlecht ging, begann wieder die Frage ohne Antwort nach dem unendlichen Weltall in ihm zu bohren und die nach der Explosion der Sonne in vier Milliarden Jahren und dem erbärmlichen und beängstigenden Zufall, den die Menschheit auf ihrer verirrten Erdkugel darstellte.
»Haben Sie konkreten Ärger?« fragte Adamsberg nunmehr besorgt.
»Einfach nur Ärger.«
»Schlafen die Kinder?«
»Ja.«
»Gehen Sie aus, Danglard, hören Sie Oswald oder Angelbert zu. Die gibt’s in Paris genau wie hier.«
»Mit solchen Vornamen sicher nicht. Und was könnte ich von ihnen lernen?«
»Daß abgeworfene Geweihe nicht soviel wert sind wie Jagdgeweihe.«
»Das weiß ich schon.«
»Daß die Stirn von Hirschen nach draußen wächst.«
»Das weiß ich schon.«
»Daß Lieutenant Retancourt sicher nicht schläft und es heilsam wäre, ein Stündchen mit ihr zu plaudern.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Danglard nach einer Pause.
Adamsberg hörte aus der Stimme seines Stellvertreters wieder ein wenig Leichtigkeit heraus und legte auf.
»Siehst du, Tom?« sagte er und legte seine Hand um den Kopf seines Sohnes. »Sie fügen eine Ähre in das Mäuerchen, frag mich nicht, warum. Wir brauchen es nicht zu wissen, wo doch Danglard es weiß. Wir werden es wegwerfen, dieses Buch, es geht uns auf die Nerven.«
Sobald Adamsberg seine Hand auf den Kopf des Kleinen legte, schlief er ein, er oder jedes beliebige andere Kind. Oder ein Erwachsener. Nach einem Weilchen schloß Thomas die Augen, Adamsberg nahm seine Hand weg und musterte kaum verlegen die Innenfläche. Eines Tages würde er vielleicht verstehen, durch welche Poren seiner Haut ihm der Schlaf aus den Fingern trat. So sehr interessierte es ihn nun auch wieder nicht.
Sein Mobiltelefon klingelte. Die Gerichtsmedizinerin, hellwach, rief ihn aus dem Leichenschauhaus an.
»Einen Augenblick, Ariane, ich lege den Kleinen ab.«
Weswegen auch immer sie ihn anrief, und es war sicher nicht aus einer Laune heraus, die Tatsache, daß Ariane an ihn dachte, lenkte ihn in seiner Frauenlosigkeit ab.
»Die Schnittwunde an der Kehle – ich spreche von Diala – liegt waagerecht. Die Hand, die die Klinge hielt, befand sich demnach weder allzusehr über der Einstichstelle noch allzusehr darunter, was eine schräge Wunde ergeben hätte. Wie in Le Havre. Kannst du folgen?«
»Natürlich«, sagte Adamsberg, während er weiter mit den Zehen des Babys spielte, rund wie junge Erbsen, die aufgereiht in ihrer Schote lagen. Er legte sich aufs Bett, um den Schwingungen in Arianes Stimme zuzuhören. Offen gestanden waren ihm die technischen Schritte, in denen die Medizinerin vorgegangen war, vollkommen gleichgültig, er wollte einfach nur wissen, warum sie eine Frau vermutete.
»Diala ist 1,86 Meter groß. Der Ansatz seiner Halsschlagader liegt bei 1,54 Meter über dem Boden.«
»Das kann man so sagen.«
»Ein Schlag fällt horizontal aus, wenn die Faust des Angreifers unter seiner Augenhöhe ausgefahren wird. Was uns einen 1,66 Meter großen Mörder liefert. Wenn wir das gleiche bei La Paille veranschlagen, bei dem man eine leicht nach unten abgewinkelte Schräge feststellen kann, ergibt das einen Mörder, der 1,64 Meter bis 1,67 Meter groß ist, durchschnittlich 1,655 Meter. Und wahrscheinlich 1,62 Meter, wenn man die Höhe seiner Schuhe abzieht.«
»162 Zentimeter«, sagte Adamsberg überflüssigerweise.
»Weit unterhalb also der allgemeinen Durchschnittsgröße von Männern. Es ist eine Frau, Jean-Baptiste. Was die Einstiche in den Armbeugen angeht, haben sie genau die Vene getroffen, in beiden Fällen.«
»Denkst du, da war eine Fachfrau am Werk?«
»Ja, und zwar mit einer Spritze. Der Feinheit der Öffnung nach und so wie der Einstich gesetzt wurde, handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Näh- oder Stecknadel.«
»Jemand kann ihnen vor dem Tod irgendwas gespritzt haben.«
»Durchaus nicht irgendwas. Es besteht keinerlei Zweifel an dem, was ihnen gespritzt wurde: nämlich nichts.«
»Nichts? Luft, meinst du?«
»Luft ist alles mögliche, nur nicht nichts. Sie hat ihnen rein gar nichts gespritzt. Sie hat sie lediglich gestochen.«
»Und hatte dann keine Zeit mehr, es zu Ende zu bringen?«
»Oder wollte es nicht. Sie hat sie nach ihrem Tod gestochen, Jean-Baptiste.«
Adamsberg legte nachdenklich auf. Dachte an den
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