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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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aber sie kann in dem Verschlag nun mal nicht bequem sitzen, Schluß aus. Sie kann den Neuen also nicht ablösen.«
    »Ich habe verstanden, Capitaine. Wie alt ist der Neue?«
    »Dreiundvierzig.«
    »Und wie sieht sein Gesicht aus?«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Ästhetisch gesehen, verführungstechnisch.«
    »Das Wort ›verführungstechnisch‹ gibt es nicht.«
    Der Commandant strich sich über den Nacken, wie immer, wenn er verlegen war. Danglards Verstand mochte noch so hochentwickelt sein, es widerstrebte ihm wie allen Männern, das Aussehen anderer Männer zu beschreiben, und so tat er, als hätte er nichts gesehen und nichts bemerkt. Adamsberg hingegen wollte möglichst viel darüber erfahren, wonach derjenige aussah, den man drei Wochen auf Camilles Treppenabsatz hatte kampieren lassen.
    »Wie sieht sein Gesicht aus?« fragte er noch einmal.
    »Relativ schön«, gab Danglard schweren Herzens zu.
    »Keine Chance.«
    »Nein. Um Camille mache ich mir auch keine Sorgen, eher um Retancourt.«
    »Empfänglich für so was?«
    »Nach dem, was man sich so erzählt.«
    »Wie relativ schön?«
    »Gebaut wie ein Baum, schiefes Lächeln und melancholischer Blick.«
    »Keine Chance«, wiederholte Adamsberg.
    »Wir können doch nicht alle Kerle auf der Welt umbringen.«
    »Wir könnten aber wenigstens die Kerle mit melancholischem Blick umbringen.«
    »Kolloquium«, sagte Danglard plötzlich und sah auf seine Uhr.
     
    Natürlich war Danglard verantwortlich dafür, daß der Gemeinschaftsraum »Konzilsaal« genannt wurde, ein Raum, in dem ihre Sitzungen stattfanden, zur Stunde eine allgemeine Zusammenkunft der siebenundzwanzig Beamten der Brigade. Aber der Commandant hatte seine Untat nie zugegeben. Ebenso hatte er als Ersatz für das Wort »Sitzung«, das ihn traurig stimmte, den Begriff »Kolloquium« in den Köpfen der Beamten verankert. Die intellektuelle Autorität Adrien Danglards besaß ein solches Gewicht, daß jeder seine Entscheidungen akzeptierte, ohne sich über ihren Hintergrund Fragen zu stellen. Wie ein Medikament, an dessen wohltuender Wirkung man nicht zweifelt, wurden die neuen Wörter des Commandant, ohne zu murren, geschluckt und dermaßen rasch angenommen, daß es hoffnungslos war, sie wieder verbannen zu wollen.
    Danglard tat so, als gingen ihn diese kleinen sprachlichen Umwälzungen nichts an. Wenn man ihn so hörte, waren diese altmodischen Begriffe aus dem Urgrund der Zeiten emporgestiegen und hatten das Mauerwerk durchtränkt wie antikes Wasser, das über das Netz von Kellern einsickerte. Sehr plausible Erklärung, hatte Adamsberg bemerkt. Und warum nicht, hatte Danglard erwidert.
    Das Kolloquium begann mit den Morden an der Porte de la Chapelle und dem Tod durch Herzversagen einer Sechzigjährigen in einem Fahrstuhl. Adamsberg zählte rasch seine Beamten durch, es fehlten drei.
    »Wo sind Kernorkian, Mercadet und Justin?«
    »In der Brasserie der Philosophen«, erklärte Estalère. »Sie sind gleich fertig.«
    Auch in zwei Jahren hatte die Summe der Mordfälle, die auf die Brigade zukamen, das freudige Erstaunen nicht zum Erlöschen bringen können, das die grünen Augen des Brigadier Estalère, des jüngsten Mitglieds der Brigade, fortwährend weitete. Lang und schlank, hielt Estalère sich stets dicht neben dem umfangreichen und unzerstörbaren Lieutenant Violette Retancourt, der er einen quasi religiösen Kult widmete und von der er sich kaum mehr als ein paar Meter entfernte.
    »Sagen Sie ihnen, sie sollen schleunigst rüberkommen«, befahl Danglard. »Ich glaube nicht, daß sie gerade an einer neuen Idee sitzen.«
    »Nein, Commandant, an einem Kaffee.«
    Für Adamsberg änderte es nichts an der Sache, ob die Zusammenkünfte Sitzung oder Kolloquium hießen. Da er gemeinschaftliche Diskussionen nicht sonderlich mochte und auch ungern Anweisungen erteilte, langweilten ihn diese allgemeinen Debatten dermaßen, daß er sich nicht erinnern konnte, auch nur eine einzige von Anfang bis Ende verfolgt zu haben. Früher oder später verließen seine Gedanken den Tisch, und von sehr weit her – aber von wo? – wehten ihn sinnlose Satzfetzen an, in denen es um Wohnungen, Verhöre, Beschattungen ging. Danglard achtete auf das Ansteigen des Verschwommenheitsgrades in den braunen Augen des Kommissars und kniff ihn in den Arm, wenn die Hochwassermarke erreicht war. Genau das hatte er soeben getan. Adamsberg verstand das Signal und kam wieder unter die Menschen zurück, ließ hinter sich, was für manche ein

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