Die dritte Jungfrau
Zustand des Stumpfsinns, für ihn jedoch ein lebenswichtiger Notausgang war, wo er im Alleingang in nicht näher zu bestimmenden Richtungen recherchierte. In verschwommenen Richtungen, erklärte Danglard entschlossen. In verschwommenen, bestätigte Adamsberg. Man kam gerade mit dem Tod der Sechzigjährigen zum Schluß, ein Verdienst der Lieutenants Voisenet und Maurel, die die verworrene Situation aufgedeckt und bewiesen hatten, daß der Fahrstuhl manipuliert worden war. Die Verhaftung des Ehemanns stand kurz bevor, das Drama gelangte zu einem Abschluß und hinterließ in Adamsbergs Kopf eine Spur von Traurigkeit, wie immer, wenn die gewöhnliche Brutalität im Dunkel des Treppenhauses seinen Weg kreuzte.
Die Ermittlung zu den Morden an der Porte de la Chapelle gehörte zum üblichen Posten der niederträchtigen Verbrechen. Vor elf Tagen hatte man den großen Schwarzen und den großen Weißen tot aufgefunden, jeden in einer Sackgasse, den einen in der Impasse du Gué, den anderen in der Impasse du Curé. Inzwischen wußte man, daß der große Schwarze, Diala Toundé, vierundzwanzig Jahre alt, unter der Brücke am Eingang von Clignancourt Altkleider und Gürtel verkaufte und der große Weiße, Didier Paillot, genannt La Paille, zweiundzwanzig Jahre alt, die Fußgänger in der Hauptstraße des Flohmarkts beim Hütchenspiel beschiß. Daß die beiden Männer sich nicht gekannt hatten und ihr gemeinsamer Nenner nur ihre außergewöhnliche Körpergröße und schmutzige Fingernägel waren. Gründe, aus denen Adamsberg sich gegen jede Vernunft weiterhin weigerte, die Akte dem Drogendezernat zu überstellen.
Die Befragungen in den Mietskasernen, in denen die beiden Männer gewohnt hatten, Labyrinthe aus eisigen Zimmern und vernagelten Toiletten in dunklen Gängen, hatten nichts erbracht, genausowenig wie der Besuch sämtlicher Bistros in der Gegend, von der Porte de la Chapelle bis nach Clignancourt. Die Mütter, beide vollkommen niedergeschmettert, hatten jeweils erklärt, ihr Kleiner sei ein guter Junge gewesen, wobei die eine einen Nagelschneider und die andere eine Stola vorzeigte, die er ihr erst im Monat zuvor geschenkt hatte. Brigadier Lamarre, der vor Schüchternheit ganz verspannt war, hatte die Sache sehr zugesetzt.
»Die alten Mamas«, sagte Adamsberg. »Könnte die Welt doch nur den Träumen der alten Mamas gleichen.«
Für einen Augenblick unterbrach eine wehmütige Stille das Kolloquium, als erinnerte sich jeder daran, was die eigene alte Mutter sich für ihn oder sie erträumt hatte und ob er oder sie diesen Wunschtraum verwirklicht hatte oder nicht und wie weit genau er davon entfernt war.
Retancourt hatte ebensowenig wie die anderen den Traum ihrer alten Mama erfüllt, die sich gewünscht hatte, sie möge eine blonde Stewardeß werden, die in den Gängen der Flugzeuge die Passagiere verführte und beruhigte, eine Hoffnung, die die ein Meter achtzig und einhundertzehn Kilo ihrer Tochter bereits in der Pubertät zunichte gemacht hatten. Nur die blonden Haare und ihre in der Tat außergewöhnliche Fähigkeit zur Beruhigung waren davon übriggeblieben. Und gerade zwei Tage zuvor war ihr in der Mauer, die die Ermittlungen blockierte, ein kleiner Durchbruch gelungen.
Nach einer Woche nämlich hatte Adamsberg, müde des fruchtlosen Auf-der-Stelle-Tretens, Retancourt aus einem vornehmen Anwesen in Reims zurückgeholt, wo sie in einer Familienmordgeschichte recherchierte, um sie nach Clignancourt zu werfen, wie man als letzten Versuch eine Zaubermacht einsetzt, ohne daß man genau weiß, was man von ihr erwartet. Er hatte ihr Lieutenant Noël zur Seite gestellt, einen Schrank mit Segelohren und Lederjacke, zu dem er keine sonderlich gute Beziehung hatte. Jedoch war Noël der geeignete Mann, Retancourt auf diesem schwierigen Parcours zu schützen. Letztendlich, und damit hätte er eigentlich rechnen müssen, hatte Retancourt Noël geschützt, nachdem eine Befragung in einem Café in einen Tumult ausgeartet war, der sich bis auf die Straße fortsetzte. Retancourts massives Eingreifen hatte die Schar erregter Männer beruhigt und Noël drei Kerlen entrissen, die ihn gern ins Jenseits befördert hätten, und zwar auf ihre Weise. Dieses Nachspiel hatte große Wirkung auf den Inhaber der Kneipe, der die Kämpfe leid war, die ständig in seinem Laden ausbrachen. Und so hatte er das Gesetz des Schweigens, das auf dem Flohmarkt herrschte, gebrochen und war – vielleicht getrieben von einer ähnlichen Offenbarung, wie
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