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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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nicht in der Lage war. Der Kommissar lächelte sie an.
    »So ist es, Lieutenant. Einen geduldigen, kleinen weißen Kieselstein im tiefen Wald. Der uns geradewegs zum Ort des Geschehens führen wird, ebenso leicht wie die Steinchen den Däumling zum Haus des Menschenfressers.«
    »Das trifft es nicht ganz«, berichtigte Mordent, Fachmann für Märchen und Sagen und wenn möglich auch Horrorgeschichten. »Mit Hilfe der Kieselsteinchen fanden sie zum Haus der Eltern zurück, nicht zu dem des Menschenfressers.«
    »Sicher, Mordent. Wir jedoch suchen den Menschenfresser. Wir gehen also anders vor. Immerhin sind die sechs Jungen doch in das Haus des Menschenfressers gelangt, oder?«
    »Die sieben Jungen«, sagte Mordent und hob die Finger. »Aber daß sie den Oger fanden, lag gerade daran, daß sie die Kieselsteine verloren hatten.«
    »Nun, und wir suchen nach ihnen.«
    »Falls es die Kiesel überhaupt gibt«, beharrte Retancourt.
    »Natürlich.«
    »Und wenn es sie nicht gibt?«
    »Aber ja, Retancourt.«
    Mit dieser Selbstverständlichkeit, die aus Adamsbergs Himmel fiel, das heißt aus jenem privaten Himmelsgewölbe, zu dem niemand Zugang hatte, ging das Kolloquium über die Porte de la Chapelle zu Ende. Man klappte die Stühle zusammen, warf die Becher weg, und Adamsberg winkte Noël zu sich heran.
    »Hören Sie auf herumzumotzen, Noël«, sagte er friedfertig.
    »Sie hätte mir nicht zu helfen brauchen. Ich wäre auch ohne sie zurechtgekommen.«
    »Mit drei Kerlen, die sich mit Eisenstangen über Sie hermachen wollten? Nein, Noël.«
    »Ich wäre sie losgeworden, auch ohne daß Retancourt den Cowboy spielte.«
    »Das ist nicht wahr. Und nur weil eine Frau Ihnen aus der Verlegenheit geholfen hat, haben Sie nicht gleich fürs ganze Leben Ihre Ehre verloren.«
    »So was nenne ich nicht Frau. Ein Pflug, ein Zugochse, ein Irrtum der Natur. Und ich schulde ihr keinen Dank.«
    Adamsberg strich sich mit dem Handrücken über die Wange, als wolle er seine Rasur überprüfen, ein Zeichen dafür, daß seine Gelassenheit einen Sprung bekommen hatte.
    »Erinnern Sie sich, Lieutenant, warum Favre gegangen ist, er und seine ewige Bosheit. Nur weil sein Nest leer steht, muß nicht ein anderer Vogel es besetzen.«
    »Ich besetze nicht Favres Nest, ich besetze meins, und darin tue ich, was ich lustig bin.«
    »Nicht hier, Noël. Denn wenn Sie’s zu lustig treiben, werden Sie sich woanders austoben müssen. Bei den Arschlöchern.«
    »Da bin ich doch schon. Haben Sie Estalère gehört? Und Lamarre mit seiner Statue? Und Mordent mit seinem Menschenfresser?«
    Adamsberg sah auf seine beiden Uhren.
    »Ich gebe Ihnen zweieinhalb Stunden, um spazierenzugehen und Ihren Schädel auszulüften. Runter zur Seine, nachdenken und wieder hierher zurück.«
    »Ich muß noch Berichte zu Ende schreiben«, sagte Noël schulterzuckend.
    »Sie haben mich nicht verstanden, Lieutenant. Das ist ein Befehl, ein Auftrag. Sie gehen raus und kommen mit klarem Geist zurück. Und wenn nötig, wiederholen Sie das jeden Tag, notfalls ein Jahr lang, bis der Flug der Möwen Ihnen was erzählt. Los, Noël, und mir aus den Augen.«

11
    Bevor er Camilles Haus betrat, um den Neuen dort auszuquartieren, betrachtete Adamsberg seine Augen im Rückspiegel eines Autos. Gut, sagte er sich schließlich und richtete sich wieder auf. Auf einen Melancholischen gehört ein Obermelancholischer.
    Er stieg die sieben Stockwerke zum Atelier hinauf, näherte sich Camilles Tür. Leise Geräusche des Lebens, Camille versuchte das Kind in den Schlaf zu wiegen. Er hatte ihr erklärt, wie man ihm die Hand aufs Haar legen mußte, aber bei ihr funktionierte es nicht. Auf diesem Gebiet besaß er einen beträchtlichen Vorsprung, dafür hatte er die anderen nicht halten können.
    Kein Laut dagegen aus dem Verschlag. Der melancholische, relativ schöne Neue war eingeschlafen. Anstatt über Camilles Sicherheit zu wachen, wie es sein Auftrag war. Adamsberg klopfte, es lockte ihn zu einer Rüge, einer ungerechten, denn es war verständlich, daß jeder Mensch, der stundenlang in diesem Ding eingeschlossen blieb, in den Schlaf gesunken wäre, erst recht ein melancholischer.
    Durchaus nicht. Der Neue, Zigarette zwischen den Fingern, öffnete sofort die Tür, nickte kurz als Erkennungszeichen. Weder ehrerbietig noch ängstlich, er versuchte lediglich, im Eiltempo wieder zu sich zu kommen, seine Gedanken zu ordnen, wie man eine Herde Schafe in den Stall zurücktreibt. Adamsberg gab ihm die Hand, wobei er

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