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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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zugekommen.«
    »Veyrenc de Bilhc.«
    »Belastet etwa er Sie? Hat er den Schatten mitgebracht?«
    Adamsberg dachte über Danglards Idee nach.
    »Zumindest Ärger. Er stammt aus dem Nachbartal. Hat er Ihnen davon erzählt? Von seinem Ossau-Tal? Von seinen Haaren?«
    »Nein. Weshalb?«
    »Als er ein Kind war, sind fünf Kerle über ihn hergefallen. Sie haben ihm den Bauch aufgeschlitzt und die Kopfhaut zerfetzt.«
    »Ja und?«
    »Diese Kerle kamen aus meinem Heimatdorf. Und er weiß es. Er hat so getan, als würde er es gerade erst herausfinden, dabei wußte er es sehr wohl, längst bevor er zu uns kam. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen, überhaupt nur deshalb ist er hier.«
    »Wieso?«
    »Er sucht nach Erinnerungen, Danglard.«
    Adamsberg nahm wieder seine liegende Position ein.
    »Diese Frau, die wir vor zwei Jahren gefaßt haben, die Krankenschwester? Erinnern Sie sich? Ich hatte vor ihr noch nie eine alte Frau verhaften lassen. Ich hasse diese Geschichte.«
    »Die war ein Ungeheuer«, sagte Danglard mit belegter Stimme.
    »Der Gerichtsmedizinerin zufolge war sie eine Dissoziierte. Mit ihrer Alpha-Hälfte, der normalen, und ihrer Omega-Hälfte, dem Todesengel. Was sind eigentlich Alpha und Omega?«
    »Griechische Buchstaben.«
    »Gut. Sie war dreiundsiebzig Jahre alt. Erinnern Sie sich an ihren Blick, als wir sie festgenommen haben?«
    »Ja.«
    »Das ist keine sonderlich belebende Erinnerung, nicht wahr, Capitaine? Glauben Sie, sie sieht uns immer noch an? Glauben Sie, sie ist der Schatten? Erinnern Sie sich.«
     
    Ja, Danglard erinnerte sich. Alles hatte in der Wohnung einer alten Frau begonnen, natürlicher Tod, Überprüfung der Todesursache, Routine. Der behandelnde Arzt und der Gerichtsmediziner, Romain, der damals noch nicht seine Zustände hatte, hatten die Sache in knapp fünfzehn Minuten abgeschlossen. Herzstillstand, der Fernseher lief noch. Zwei Monate später wiederholten Danglard und Lamarre diesen alltäglichen Vorgang bei einem einundneunzigjährigen Mann, der in seinem Sessel gestorben war, in der Hand noch sein Buch, das seltsamerweise Von der Kunst, Großmutter zu sein betitelt war. Adamsberg war eingetroffen, als die beiden Ärzte zum Schluß kamen.
    »Aneurysma-Riß«, verkündete der behandelnde Arzt.
    »Man weiß nie, wann so was passiert. Aber wenn’s passiert, dann passiert’s. Keinen Einwand, Kollege?«
    »Keinen«, erwiderte Romain.
    »Nun denn.«
    Der Arzt holte seinen Füller und den Totenschein heraus.
    »Einen Augenblick«, meinte Adamsberg.
    Die Blicke richteten sich auf den Kommissar, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und ihnen zusah.
    »Irgendein Problem?« fragte Romain.
    »Riechen Sie nichts?«
    Adamsberg löste sich von der Wand und ging zu der Leiche. Er roch am Gesicht und strich ganz leicht über die spärlichen Haare des alten Mannes. Dann durchmaß er mit großen Schritten die zwei kleinen Zimmer, das Gesicht nach oben gekehrt.
    »Es liegt in der Luft, Romain. Schau woandershin, anstatt die Leiche anzustarren.«
    »Wo, woanders?« fragte Romain und wandte seine Brille zur Decke.
    »Romain, dieser Alte ist ermordet worden.«
    Der behandelnde Arzt machte eine Geste der Ungeduld und steckte seinen dicken schwarzen Füller wieder weg. Dieser kleine Typ mit dem verschwommenen Blick, der am Tatort herumstand, die Hände in den Taschen einer abgewetzten Hose, mit Armen so braun, als würde er seine Zeit in der Sonne verbringen, kam ihm merkwürdig vor, irgendwie dubios.
    »Mein Patient war am Ende, verbraucht wie ein alter Gaul. Wenn’s passiert, passiert’s halt.«
    »Es passiert, aber nicht immer aus heiterem Himmel. Riechen Sie das, Doktor? Es ist weder ein Parfum noch ein Medikament. Kamille, Pfeffer, Kampfer, Orangenblüte.«
    »Die Diagnose steht, und Sie sind kein Arzt, soweit ich weiß.«
    »Nein, ich bin Bulle.«
    »Kann ich mir denken. Wenn Sie nicht einverstanden sind, rufen Sie den Kommissar an.«
    »Ich bin der Kommissar.«
    »Er ist der Kommissar«, bestätigte Romain.
    »Scheiße«, sagte der Arzt.
    Als Kenner in Sachen Adamsberg sah Danglard nun mit an, wie der Mediziner nach und nach auf Adamsbergs Stimme und sein Benehmen reagierte, wie er sich einfangen ließ von seiner Überzeugungskraft, die wie ein betörendes Lüftchen von ihm ausging. Er sah, wie der Mann nachgab und wegknickte wie ein Baum im Wind, wie er schon so viele andere hatte nachgeben sehen, eherne Männer, stählerne Frauen, deren Widerstand dahingeschmolzen war vor dieser

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