Die dritte Jungfrau
bis ans Ende der Welt, aber verlange nicht von mir, mit dir zusammen unter den Tischen herumzukriechen.«
Retancourt bemerkte in den Augen des Brigadiers eine unerwartete Empörung.
»Ich werde diesen Kiesel suchen«, sagte der junge Mann und stand unbeholfen auf. »Und zwar nicht, weil die gesamte Brigade mich für einen Hornochsen hält, du wie alle anderen. Aber er nicht. Er schaut, er weiß. Er sucht.«
Estalère holte Luft.
»Er sucht einen Kiesel«, sagte Retancourt.
»Weil in dem Kiesel Sachen drin sind, da sind Farben, Zeichnungen, da stehen kleine Geschichten drin. Und du siehst sie nicht, Violette, du siehst nichts.«
»Zum Beispiel?« fragte Retancourt und hielt ihr Glas umklammert.
»Such, Lieutenant.«
Estalère verließ den Tisch mit jugendlicher Heftigkeit und ging zu Emilio, der sich in den Hinterraum geflüchtet hatte.
Retancourt schwenkte das Bier in ihrem Glas und sah den Neuen an.
»Er ist eine Glasfaser«, sagte sie, »hin und wieder erhitzt er sich. Du mußt verstehen, er verehrt Adamsberg. Wie ist dein Gespräch mit ihm gelaufen? Fair?«
»Das würde ich nicht sagen.«
»Ist er von einem Gedanken zum nächsten gesprungen?«
»So in etwa.«
»Das macht er nicht absichtlich. Er hat vor einiger Zeit ziemlich was eingesteckt, in Quebec. Was hältst du von ihm?«
Veyrenc lächelte schief, und Retancourt war sehr angetan. Sie fand, daß der Neue viel Charme hatte, und sah ihn oft an, wobei sie eingehend sein Gesicht und seinen Körper betrachtete, seine Kleidung durchdrang und sich so, die Rollen verkehrend, wie ein Mann benahm, der unverhohlen ein hübsches Mädchen im Vorbeigehen mit Blicken auszieht. Mit ihren fünfunddreißig Jahren benahm Retancourt sich wie ein alter Junggeselle bei einer Vorführung. Und auch genauso risikolos, denn sie hatte ihren Gefühlsraum verriegelt, um sich jede Enttäuschung zu ersparen. Als junges Mädchen war sie schon genauso massig gewesen wie eine Tempelsäule und hatte es sich zur Devise gemacht, daß Defätismus sie vor unnötiger Hoffnung schützen würde. Ganz im Gegensatz zu Lieutenant Hélène Froissy, die glaubte, daß die Liebe ein Glück sei und sie an jeder Straßenecke erwarte, und die auf diese Weise schon einen beeindruckenden Berg der verschiedensten Kummersorten angehäuft hatte.
»Für mich ist da noch was anderes«, sagte Veyrenc.
»Adamsberg ist im Gave-de-Pau-Tal aufgewachsen.«
»Wenn du so redest, ähnelst du ihm direkt.«
»Gut möglich. Ich stamme aus dem Nachbartal.«
»Ach«, sagte Retancourt. »Es heißt, man stellt nicht zwei Gascogner auf dieselbe Wiese.«
Estalère lief ohne einen Blick wieder an ihnen vorbei und verließ türenschlagend das Café.
»Der ist weg«, war Retancourts Kommentar.
»Fährt er ohne uns zurück?«
»Offenbar.«
»Liebt er dich?«
»Er liebt mich, als wäre ich ein Mann, als wäre ich das, was er mal werden will und nie sein wird. Ein Panzer, ein Maschinengewehr, ein Jagdflugzeug. Paß auf dich auf, hier bei uns, und halt dich ein bißchen fern. Du hast sie gesehen, du hast uns gesehen. Adamsberg und sein unzugängliches Herumgeirre. Danglard mit seiner schier unendlichen Gelehrtheit, der hinter dem Kommissar herrennt, um das Schiff davor zu bewahren, daß es auf hoher See kentert. Noël, beschränkt und gewalttätig, dazu noch Waise. Lamarre, dermaßen linkisch, daß er Mühe hat, andere anzusehen. Kernorkian, der sich vor Dunkelheit und Mikroben fürchtet. Voisenet, ein Schwergewicht, der sich seiner Zoologie widmet, sobald man ihm den Rücken kehrt. Justin, der Gewissenhafte, bis zur Ohnmacht peinlich genau. Adamsberg kriegt es immer noch nicht in seinen Schädel, wer Voisenet und wer Justin ist, er verwechselt dauernd ihre Namen, und weder der eine noch der andere ist deshalb beleidigt. Froissy, die in ihren Ernährungswahn und ihren jeweils aktuellen Kummer versunken ist. Estalère, der Ergebene, den du soeben kennengelernt hast. Mercadet, ein Zahlengenie, der immerzu gegen den Schlaf ankämpft. Mordent, Anhänger des Tragischen, der vierhundert Bände Märchen und Sagen besitzt. Und ich, Noël zufolge die dicke Mehrzweckkuh der Truppe. Was um Himmels willen willst du hier?«
»Es ist ein Plan«, sagte Veyrenc in unbestimmtem Ton. »Magst du diese Kollegen nicht?«
»Aber ja.«
»Und doch, Madame, kommt, was Ihr sagt, fast einer Schmähung gleich.
Ist Tadel hier gerecht? Liegt Schuld nicht auch bei Euch?«
Retancourt lächelte, dann starrte sie Veyrenc an.
»Was sagst du
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